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648 F ür unsere F r a u e n Heft 27


/^s ist alles so viel einfacher geworden als früher!
^^Es gibt keine Rüschen und Falbeln und Säume und staub aufwirbelnde
Besenlitzen mehr an den Kleidern. In den Wohnungen hat Bruno Tauts
und seiner Anhänger Beispiel gründliche Räumungsarbeit getan: hat
gipserne Marmorbüsten, gehäkelte Schonerdeckchen und bemalte Muschel-
schalen von den Kommoden und die Vordbretter mit ihrem Krimskrams
von den Wänden gefegt. Glatte Scheitel oder noch glättere Bubiköpfe
sind an die Stelle der kunstvoll aufgesteckten Frisuren getreten. Und —
zum Mittagessen gibt es rohe Gelbe Rüben und Kohlrabi, wie sie aus
dem Garten kommen, statt der einstigen, mit so viel Mühe geschmorten,
gebratenen, gedünsteten oder gebackenen Gerichte.
„Nein! Also das geht entschieden zu weit! Den Fortschritt in allen
Ehren — aber so etwas machen wir doch nicht mit!" sagen Herr und Frau
— wir wollen sie diskret einfach B nennen —, als sie Familie A vom
Hausherrn bis zum Jüngsten bei der abendlichen Rohkostschüssel finden.
Allerdings, appetitlich, geradezu dekorativ sieht dieses Grünfutter schon
aus! Auf einer in ihren Dimensionen einer achtköpfigen Familie an-
gepaßten Platte ist ein fünfstrahliger bunter Stern gelegt. Ein jeder
Sternenstrahl ist aus anderem „Rohstoff" aufgeschichtet. Da sticht die
Naturorangefarbe der Gelben Rüben vorteilhaft ab vom Saftgrün des
Spinates und vom zarten Weiß des Blumenkohls. Rotblaue Rettiche
neben lichtgrünen Kohlraben erinnern an indanthrenfarbene neue Sommer-
kleider.
Hm! Tatsächlich — zum Ansehen ist dieser Rohkoststern nicht so übel!
Aber essen davon! Brr! Nein! Herr und Frau V schütteln energisch
den Kopf: „Danke! Lieber nicht! Wir bleiben bei unseren gedämpften
Rüben und beim gekochten Spinat. Wir haben immerhin noch mensch-
liche und keine auf solche, hm, ja... auf solche wiederkäuerischen Genüsse
eingestellten Magen!"
Es ist seltsam, wie das Beispiel, ob es nun gut oder schlecht ist, lockt
und zieht und zur Nachahmung verleitet!
Da stehen die geputzten, runden, netten Karotten vor Frau B auf
dem Küchentisch und warten nur darauf, mit Hilfe von Feuer und Fett
in das gewohnte Rübengemüse verwandelt zu werden. Aber Frau B
sieht mit schiefgeneigtem Kopf und kritischen Augen die kapuzinerblüten-
gelben Dinger an. Die rohen Karotten sehen mit einemmal so ver-
heißungsvoll frisch und zart aus, lachen sie an, wie der Erkenntnisapfel im
Paradies Eva angelacht haben mag. Im Augenblick verwandelt das Reib-
eisen unter ihren Händen die Wurzelfrucht in einen saftigen, gelbroten
Brei, Rahm, Zitronensaft und Öl mischen sich mit ihm, und feingewiegter
Peterling gibt dem Ganzen zum Schluß noch das besonders pikante Ansehen.
Als am Mittag der Hausherr heimkommt, da ist's geschehen, da steht
die erste Rohkost auf dem Tisch. Und sie schmeckt an dem heißen Tag,
trotz aller Vorurteile, so gut, so frisch und rein und würzig, daß die Schüssel
bald leer ist. Und „Das machen wir bald wieder!" sagen B's voller Be-
friedigung zueinander.
Man mag über die Rohkost denken, wie man will, es ist doch so: gesünder
ist ein Speisezettel, der reichlich rohes Gemüse und Obst enthält, als einer,
der nur aus Gekochtem und Gebratenem besteht. Das weiß erst der, der
es einmal, aus eigenem Antrieb oder ärztlicher Verordnung folgend, selbst
versucht hat.
„Sonnenlichtspeisen" nennt der bekannte Züricher Arzt, Doktor Bircher-
Benner, die ungekochten Gerichte, die er gesunden Menschen empfiehlt,
um sich gesund zu erhalten, kranken, um zu genesen.
„Aufgespeicherte Sonnenkraft", so sagt er, „enthält jedes Stückchen Obst,
jedes Gemüseblatt, jede Wurzel. Und die Sonnenkraft oder, mit anderem
Namen genannt, die Vitamine werden zerstört durch den Prozeß des
Kochens oder Bratens."
In den Zeiten der Besenlitzen, der Wandbretter und der gemalten
Muschelschalen — so wird man nun vielleicht einwerfen — hat sich aber
doch kein Mensch um Vitamine gekümmert. Und die Leute wurden auch
alt dabei.
Jawohl! Aber wieviele haben sich durch falsche Ernährung eine qual-
volle, selbst todbringende Krankheit geholt, ohne daß man wußte, was
eigentlich die Schuld daran trug! Es sei aus der Leidensgeschichte der
Menschheit nur ein Beispiel herangezogen: der Skorbut. Skorbut ist eine
sogenannte Mangelkrankheit und befällt vor allem die Bewohner arktischer
Gegenden. Aber nicht nur dort, sondern zu allen Zeiten und in allen
Ländern trat dies schreckliche Leiden bei Kriegen, Expeditionen, bei Eemüse-

und Obstmißernten auf — kurz, überall, wo Obst und Frischgemüse zur
menschlichen Ernährung fehlten, und ganz besonders da, wo viel Gemüse-
konserven verwendet wurden, und zwar — das ist in unserem Fall nun
der Haken, an dem alles hängt! — solche Gemüsekonserven, die abgebrüht,
denen die Vitamine genommen waren.
Seit man das Heilmittel gegen Skorbut kennt: vitaminreiche Nahrung,
das heißt Obst und grüne Gemüse, ist der furchtbaren Krankheit ein guter
Teil ihres Schreckens genommen. Und seit man nicht mehr glaubt, ein
Säugling könne einzig und allein nur mit Milch aufgezogen werden, und
seit man sich nicht scheut, sogar ein Wickelkind mit Bananen und dem
Saft von Orangen oder roher Gelber Rüben und mit Spinat zu füttern,
fordert auch der Säuglingsskorbut nicht mehr so viel Opfer wie zur Zeit
der pasteurisierten Milch.
Nun darf man nicht meinen, man müsse unbedingt Skorbut haben, um
die Heilkraft der Vitamine auszuproben — ein einfacher Rheumatismus
oder Darmbeschwerden tun es auch. Noch besser: man sieht zu, daß man
sich alle derartigen Leibesschäden fernhält durch eine richtige, gesunde
Ernährungsweise, die weder Blut und Gewebe übersäuert noch Magen
und Darm unnötig beschwert, sondern die gesund und stark erhält, die
Tätigkeit aller Organe belebt, das Blut reinigt und Gifte und Bazillen
aus dem Körper herausschafft, wie es die richtig gewählte Rohkbst tut.
Natürlich soll man auch hier nicht übertreiben und sich besonders am
Anfang vor einem Zuviel hüten. Es ist auch niemand anzuraten, auf eigene
Faust, ohne sich vorher mit seinem Arzt zu besprechen, gänzlich zur
Rohkost überzugehen. Aber man sollte die Erkenntnis von der Heilkraft der
Vitamine sich zunutze machen und nicht neben der gewohnten, gekochten
Kost den Genuß frischen Obstes und besonders ungekochter Gemüse all-
zu kurz kommen lassen, sie nicht nur als Nachtischspeisen betrachten. Wenn
man sich dann noch dazu entschließt, einen oder zwei reine Rohkosttage
in der Woche einzuschalten, so wird man bald ihren erfrischenden, lösenden,
befreienden Einfluß auf den ganzen Organismus fühlen.
Außer den verschiedenen Salatsorten, außer Tomaten, Gurken und
Rettichen, die wir ja gewohnt sind, ungekocht zu genießen, lassen sich auch
alle anderen Gemüse, vom ersten, zarten Spinat bis zu den späten Gelben
Rüben und zum letzten Blumenkohl, roh Zubereiten. Sehr gutes Waschen,
wobei dem letzten Wasser eine Handvoll Kochsalz zugefügt wird, ist Vor-
bedingung. Darauf kommt die notwendige Zerkleinerung; Kohlrabi, Gelbe
Rüben und so weiter werden auf dem Reibeisen gerieben, Spinat und
Kohlarten — von denen aber nur die zarten Teile Verwendung finden,
werden gewiegt oder durch die Hackmaschine gegeben, Krautarten werden
eingehobelt, und das so vorbereitete Gemüse wird mit Zitronensaft, Öl
und Rahm — saurem oder süßem, ganz nach Geschmack — angemacht.
Als Gewürzkräuter dienen Schnittlauch, Zwiebel, Peterling, Dill, Majo-
ran, Thymian, Kümmel, Fenchel, und man kann, je nachdem man ein
Gewürzkraut wählt, Abwechslung im Geschmack schaffen. Auf keinen Fall
sollte man Senf oder Pfeffer verwenden. Gutes, säurefreies Vollkornbrot,
frische Butter, Nüsse aller Art, Hafer- oder Weizenflocken, Honig, Milch,
Nahm, selbstverständlich Obst von allen Sorten — wenn man es liebt, mit
Rahm, Zitrone und etwas Zucker angemacht — und als Getränk Mandel-
milch, Obstsaft oder alkoholfreier Wein, auch Lindenblüten- und Hagen-
buttentee, vervollständigen den Speisezettel eines Rohkosttages. Frühstück
und Abendessen bildet das „Bircher Müsli", das aus Hafer- oder Weizen-
flocken, die zwölf Stunden lang in Wasser eingeweicht waren, vermischt
mit geriebenem oder zerquetschtem Obst irgendwelcher Art, Zitronensaft,
wenig Zucker, geriebenen Nüssen und ein paar Löffel Milch besteht. Alle
Rohkostspeisen sollten sofort nach der Zubereitung genossen werden.
Die Hausfrau wird zur Abwechslung ganz gerne einmal für einen Tag
das Kochen sein lassen — arbeitsfrei ist sie freilich auch am Rohkosttag
nicht, aber doch lange nicht so sehr von der Küchenarbeit in Anspruch ge-
nommen wie sonst. Das Stehen am heißen Herd spart sie sich auf alle
Fälle, genau wie die Kosten für Gas oder Brennmaterial. Der „spar-
samen Hausfrau" sei noch besonders gesagt, daß sie auch vom Gemüse
selber nicht so viel braucht, als wenn sie es nach der gewohnten Art zu-
bereitet. Rohes Gemüse sättigt und nährt bedeutend besser als dieselbe
Menge in gekochtem Zustand.
Und — wie schon gesagt — dem allgewaltigen Herrn vieler Menschen,
dem Magen, bekommt ein roher Tag nur gut. Und dem allgemeinen
Wohlbefinden, der Stimmung, desgleichen. Denn: „Iß roh, dann wirst
du froh ..." sagen die Rohköstler. Und sie haben nicht so unrecht damit.

Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt / Überseyungsrecht Vorbehalten / Anschrift für Einsendungen: Schriftleitung des Buchs für Alle, Stuttgart, Cottastr. iz, ohne Beifügung eines
Namens / Herausgegeben unter verantwortlicher Schristleitung von Gottlob Mayer in Stuttgart / Verantwortlich für den Anzeigenteil: Georg Springer in Berlin / In Österreich für
Herausgabe und Schriftleitung verantwortlich: Robert Mohr in Wien I, Domgasse 4 / Für die Tschechoslowakei Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Karl Kunschke, Privoz,
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