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Die Gasfernversorgung
Ein Leitungsnetz durch ganz Deutschland / Von Diplomingenieur 2l. HeinrichsLauer in Essen

ach dem jetzigen Stand der Dinge erscheint es nicht ausgeschlossen,
daß das theoretisch vollkommen gelöste Problem der Gasfernver-
sorgung praktisch bald in Angriff genommen wird. Aus Gründen, die
hauptsächlich mit der Bekämpfung und Verdrängung der englischen Kohle
Zusammenhängen, ist auf der Grundlage einer das Ruhrrevier von Westen
nach Osten durchziehenden Sammelleitung zunächst an den Bau einer
Linie gedacht, die, von einer in der Nähe von Hamm liegenden großen
Druckstation ausgehend, über Hannover, Braunschweig, Magdeburg nach
Berlin verläuft; kurz vor Hannover, in der Gegend von Wunstorf, ist
eine Abzweigung nach Norden geplant, die mit Seitenleitungen nach
Bremen und Lübeck bis nach Hamburg und Kiel gehen soll. Weiter ist —
allerdings erst für spätere Zeit — eine Fortsetzung über Berlin hinaus
bis nach Stettin und eine Querverbindung Berlin—Hamburg vorgesehen.
Mit Hilfe dieser Leitung, die unter einem Druck von 30 Atmosphären
stehen soll, kann für den ersten Anfang die Beförderung von einer Milliarde
Kubikmeter Gas vor sich gehen, eine Transportmenge, die jederzeit mit
Leichtigkeit gesteigert werden kann. Was diese Ziffer bedeutet, mag zeigen,
daß allein Berlin, dessen Verbrauch rund die Hälfte der hier angegebenen
Ziffer beträgt, zur Herstellung der für den Berliner Bezirk benötigten
Gasmengen alljährlich über eine Million Tonnen Brennstoffe braucht,
die bisher nebst den in ihnen enthaltenen großen Mengen an Asche,
Wasser und so weiter umständlich und teuer an Ort und Stelle befördert
werden mußten. Je nach der Ausbreitung der Gasfernversorgung ist dann
für später der Bau einer Leitung in Aussicht genommen, die vom Ruhr-
bezirk über Kassel, Erfurt, Leipzig, Dresden nach Breslau gehen soll;
in Breslau ist ein Anschluß an die niederschlesische und oberschlesische Kohle
geplant, während von Riesa aus eine Querverbindung nach Berlin vor-
gesehen ist, so daß auf diese Weise zwischen dem Ruhrbezirk und Berlin
eine Ningverbindung hergestellt wird, die auch mit Gas aus schlesischer
Kohle gespeist werden kann. Weiter ist dann im Laufe der Jahre an den
Bau einer Leitung gedacht, die vom westlichen Teil des Ruhrbezirks den
Rhein aufwärts bis nach Bonn, dann durch das Siegerland über Frank-
furt am Main, Aschaffenburg, Würzburg nach München gehen soll; eine
Abzweigung soll von Frankfurt am Main aus über Wiesbaden und Karls-
ruhe nach Stuttgart führen, wobei eine Verbindung mit der Saarkohle
vorgesehen ist. Eine andere Zweigstrecke soll von Nürnberg aus einerseits
Verbindung mit Stuttgart, anderseits über Chemnitz—Zwickau eine solche
mit Riesa Herstellen. Wenn alle Leitungssysteme gebaut sind, was eine
Reihe von Jahren dauern wird, wird das Netz insgesamt eine Länge
von 3000 Kilometer haben.
Rein technisch betrachtet ist der Bau von solchen Leitungen, die mehrere
hundert Kilometer Länge aufweisen, durchaus möglich. Finanziell dürften
Schwierigkeiten ebenfalls nicht entstehen. Eine Leitung für den Berliner
Bedarf würde zum Beispiel bei 8 Prozent Verzinsung und Tilgung das
Kubikmeter Gas nur mit 1 Pfennig belasten. Auch scheint die Versorgung
großer Abnehmerbezirke schon jetzt durchaus gesichert. Man rechnet zur-
zeit im Ruhrbezirk mit rund 2700 Millionen Kubikmeter Nberschußgas,
das in eigenen Betrieben nicht verwertet werden kann; von dieser Menge
werden zurzeit nur ungefähr 170 bis 200 Millionen Kubikmeter in den
allgemeinen Verbrauch übergeführt.
Der mit der Ferngasversorgung verfolgte privatwirtschaftliche Zweck
besteht in dem Bestreben, die zur Verfügung stehenden hochwertigen
llberschußgase in Form von Leucht- oder Kraftgas in den unmittelbaren
Verbrauch zu bringen, anstatt sie wie bisher für Zwecke zu verwenden,
die mit geringwertigeren Brennstoffen beziehungsweise Gasen ebensogut
erfüllt werden können. Man will die geringwertigeren Sorten möglichst
weitgehend in eigenen Betrieben verbrauchen, um dadurch den Markt von
dem Druck gerade dieser schwer absetzbaren Sorten zu entlasten, und ihm
die hochwertigeren Qualitäten zuführen, deren Absatzmöglichkeiten relativ
günstig sind.
Allgemeinwirtschaftlich betrachtet wird mit der Ferngasversorgung das
Ziel der Steigerung des Gasverbrauchs verfolgt, um auf indirektem Wege
eine Steigerung des inländischen Steinkohlenverbrauches zu erzielen und
dadurch die Ausfälle in der Produktion des wichtigsten deutschen Rohstoff-
gewerbes auszugleichen, die durch Rückgang der Ausfuhr, durch das Vor-
dringen von Wasser und Ol, durch die Ersparnisse in der Wärmewirtschaft
und so weiter entstanden sind. Der Gasverbrauch in Deutschland ist ver-
hältnismäßig sehr gering; in England ist er drei- bis viermal höher. Er-

fahrungsgemäß wird durch die mit der Ferngasversorgung verbundenen
Vorteile der Anreiz zu stärkerem Gasverbrauch ganz erheblich gesteigert.
Vor allem scheinen die Möglichkeiten, Gas auch in industriellen Betrieben
in größerem als dem bisherigen Umfange verbrauchen zu können, recht
erheblich zu sein. Nicht so günstig sind die Aussichten für eine Steigerung
des Gasverbrauches für Beleuchtungszwecke. Für die Straßenbeleuchtung
sind sie allerdings gut, da für diesen Zweck Gas für zuverlässiger als
Elektrizität gilt. Dagegen dürfte sich auf dem Gebiete der Wohnungs-
beleuchtung das elektrische Licht auf die Dauer doch wohl als Siegerin
erweisen. Sehr erhebliche Möglichkeiten ergeben sich jedoch auf dem Gebiet
der stärkeren Gasentnahme für die häusliche Wärmewirtschaft (Küche,
Waschküche, Bad, Zentralheizung und so weiter), da Haushaltungen, die
sich auf Gas umstellen, Zweifellos ihre Wärmewirtschaft angenehmer als
jetzt gestalten können, sobald sich der Gaspreis vorteilhaft stellt, woran
bei der Ferngasversorgung nicht zu zweifeln ist. Es wird also dadurch der
Gasverbrauch gehoben, daß mit Wärme weniger gespart wird.
Die Möglichkeit einer Steigerung des Gasverbrauchs besteht an sich
zwar schon jetzt. Hindernd wirkt aber — wenn man einmal vom Preise
absehen will — die Tatsache, daß bei den kommunalen Gaswerken (die
Gaserzeugung Deutschlands erfolgt zu mehr als 90 Prozent in städtischen
Eigenbetrieben) mit einer Steigerung des Gasverbrauchs automatisch
auch eine Steigerung der Erzeugung von Gaskoks eintritt. Gerade dieser
ist aber wegen seiner relativ schlechten Qualität nur schwer absatzfähig,
so daß die städtischen Werke an einer Steigerung des Gasverbrauchs kein
uneingeschränktes Interesse haben. Im Falle der Einführung der Fern-
gasversorgung fällt aber dieser Grund fort. Von der Einführung einer
modernen Gaswirtschaft ist also eine ganz erhebliche Steigerung des Gas-
verbrauchs zu erwarten, die nicht zu Lasten einer anderen Energiequelle
(zum Beispiel der Elektrizität) geht, die vielmehr als zusätzlicher Ver-
brauch anzusehen ist.
Besonders wichtig für den Interessenten ist natürlich die Höhe des
Ferngaspreises. Grundsätzlich ist dazu folgendes zu sagen: Wie bereits
ausgeführt, darf mit ziemlicher Bestimmtheit von der Ferngasversorgung
eine erhebliche Steigerung des Verbrauchs erhofft werden. Je höher aber
der Gasverbrauch ist, desto günstiger wird die Preisstellung. Überschläglich
gerechnet kann man sagen, daß heute der Erzeugungspreis für Gas un-
gefähr ein Drittel des Endpreises ausmacht; die restlichen zwei Drittel
werden verwandt für den Verteilungsapparat und so weiter, vor allem
aber für den kommunalen Finanzbedarf. Gibt es doch Städte, die bis
zu 15 Prozent und darüber ihres gesamten Etats aus den im Gasverkauf
erzielten Überschüssen decken. Nun ist es fraglos möglich, trotz der langen
Leitungen den Preis von Ferngas so billig zu stellen, daß er die jetzt von
den Kommunen verlangten Preise um ein Wesentliches unterschreitet.
Vor kurzem sind auf einer Tagung des Vereins von Gas- und Wasser-
fachmännern als Durchschnittsselbstkosten der Gaswerke ohne Kapital-
dienst 1,5 Pfennig je 1000 Wärmeeinheiten angegeben worden; für
1 Kubikmeter Gas von rund 4300 Kalorien Heizwert ergäbe sich also ein
Preis von 6,5 Pfennig Selbstkosten frei Gasbehälter. Ganz moderne
Werke arbeiten natürlich etwas billiger. So werden zum Beispiel die
Durchschnittsselbstkosten der Berliner Werke — ebenfalls ohne Berück-
sichtigung des Kapitaldienstes — mit rund 5 Pfennig je Kubikmeter an-
gegeben. Zu diesen eigentlichen Erzeugungskosten muß aber unbedingt
der Kapitaldienst hinzugerechnet werden. Im einzelnen schwankt dieser
in seiner Höhe außerordentlich. Im Westen arbeitet zum Beispiel ein
ganz modernes Gaswerk mit nicht weniger als 10 Pfennig je Kubikmeter
für Verzinsung und Tilgung der Anlagen; dieser Satz liegt aber über dem
Durchschnitt, den man mit ungefähr 2,5 bis 3 Pfennig je Kubikmeter
annehmen kann. Man kann also schätzen, daß die Gaserzeugungskosten
der Gaswerke einschließlich Kapitaldienst auf mindestens 7, in der Regel
aber auf 8 bis 9 Pfennig je Kubikmeter frei Gasbehälter kommen werden.
Gegenüber der Erzeugung von Gas in Gaswerken hat das auf den
Zechen erzeugte Kokereigas so billige Gestehungskosten, daß die Ruhr-
zechen heute ihr Kokereigas an die Bezirksgaswerke zu Preisen abgeben,
die kaum die Hälfte der Gaswerksselbstkosten betragen. Weitere Ver-
billigungsmöglichkeiten werden sich dadurch erzielen lassen, daß mit
größerem Verbrauch die Vertriebskosten selbstverständlich geringer werden,
da mit demselben Rohrnetz und demselben Personal mehr Gas verkauft
werden kann. Daß diese theoretischen Überlegungen auch praktisch richtig
 
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