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Das Buch für Alle


„Ist die Revision streng?" fragte Anna und erkannte ihre eigene Stimme
nicht mehr, so heiser klang sie.
„Oh, nein, es ist mehr eine Formsache. — Na was ist denn das?" unter-
brach er sich. „Sind wir denn schon in San Candido?"
Der Zug hielt plötzlich vor einem kleinen Stationsgebäude, das in-
mitten der verschneiten Waldberge stand, und neben den Wagen tauchten
die grellen Lichter einiger Autos auf.
Die Schaffner liefen die Durchgangswagen entlang, ohne sich von den
bestürzten Reisenden aufhalten zu lassen. „Niemand darf seinen Wagen
verlassen." Die Türen schlugen zu und wurden von außen verschlossen.
„Was ist denn? Sind wir schon an der Grenze?" Überall riefen es die
schlaftrunkenen Menschen, und Anna fühlte, wie kalter Schweiß auf ihre
Stirne trat.
Die Türe ihres Abteils wurde aufgerissen, und zwei Männer traten
ein. „Kriminalpolizei. Wir bitten um die Pässe."
Sie blieb bewegungslos sitzen und starrte die Beamten an. Sie konnte
nicht sprechen, ihre Hände lagen bewegungslos, sie war unfähig, sie zu heben.
Die Pässe der jungen Männer wurden durchgesehen, das Gepäck revi-
diert. Die Beamten richteten noch einige Fragen an die Studenten und
wandten sich zu ihr. Sie nah¬
men ihr den Paß aus der Hand.
„Zu welchem Zweck fahren
Sie nach Italien?"
„Ich bin die Kammerjungfer
der Frau Wertheim," sagte sie,
und ihre Stimme schwankte.
„Meine Dame ist im Neben¬
wagen."
„Ah so!" Der Mann warf
einen Blick in die Liste, die er
in Händen hielt.
„Ist das Ihr Gepäck?" Er
deutete auf den kleinen Segel¬
leinenkoffer im Netz. Sie nickte
und stand auf, um ihn her¬
unterzuheben.
„Lassen Sie — es ist gut."
Die Türe schlug zu. Der Zug
stand fast eine Stunde in der
kleinen Station, deren Signal¬
glocken fast unausgesetzt läute¬
ten, und die Beamten durch¬
suchten jeden Zollbreit der
beiden Wagen erster Klasse.
Jetzt kam der Zugführer aus
dem Zimmer des Stationsvor¬
stehers gelaufen und verhan¬
delte aufgeregt mit den Män¬
nern, die den Zug umgaben.
Es dämmerte bereits, man sollte schon lange die italienische Grenze erreicht
haben und würde den Anschluß nach Mailand versäumen.
Ein paar erregte Gespräche, die österreichischen Polizeibeamten sprangen
ab, und knarrend setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
Das Mädchen ging zu ihrer Dame hinüber, ihre Zähne schlugen zusammen.
Hier sah es schrecklich aus. Das Gepäck der Reisenden war durchwühlt
und lag überall auf dem Fußboden verstreut. Die Herren bemühten sich
in Hemdärmeln, Ordnung in das Chaos zu bringen; ihre Röcke lagen auf
den Sitzplätzen und waren offenbar ebenfalls durchsucht worden. Annas
Herrin hatte beinahe einen Nervenschock vor Aufregung und lehnte halbtot
in der Ecke ihres Abteils.
Das Mädchen sammelte wie ein Automat die herausgerissenen Klei-
dungsstücke des Handgepäcks zusammen und beobachtete mit jagenden
Pulsen den Rumänen, der sich keuchend bückte, um seine ausgeleerten
Koffer wieder einzupacken. Er schimpfte dabei in seiner Sprache vor sich
hin und warf dem Schaffner böse Blicke zu, aber als er mit seiner Arbeit
fertig war, richtete er sich befriedigt wieder auf und setzte sich, eine Zigarre
ansteckend, ruhig auf seinen Platz. War es möglich? Hatte er den Verlust
der Tasche, die ein riesiges Vermögen barg, gar nicht bemerkt?

Jetzt fuhr der Schnellzug in San Candido ein, und das österreichische
Zugspersonal verließ die Wagen. Allenthalben tauchten die hohen Kappen
der Italiener auf, die Paßrevision ging ruhig vorbei, das Gepäck wurde
kaum angesehen. Man durfte keinen Aufenthalt machen, man mußte
weiter. Der Zug jagte abwärts, und nach zwei Stunden fuhren sie in
Fortezza ein, wo sie der nach Klagenfurt abgehende Zug, bereits unter
Dampf stehend, erwartete.
„Dreißig Minuten Aufenthalt."
Anna, deren Kopf zum Zerspringen schmerzte, ging zum Speiseraum,
um eine Erfrischung für ihre Herrin zu besorgen. Sie drängte sich durch
die Menschen und wollte eben nach einem Teller mit Obst greifen, als
jemand leise zu ihr sprach. Sie fuhr herum. Hinter ihr stand der Rumäne.
„Mein Fräulein," sagte er, und seine Lippen bewegten sich kaum, „geben
Sie mir jetzt meine Tasche zurück."
Was war das? Der Mann sprach ja Deutsch — und er wußte? Anna
wankte und wäre umgesunken, wenn er sie nicht gehalten hätte.
„Kein Aufsehen, bitte," sagte er und sah dabei an ihr vorbei. „Kommen
Sie jetzt mit mir."
Sie ging taumelnd hinter ihm her, er bestieg den Zug, und sie folgte.
Als sie miteinander auf der
kleinen geschlossenen Plattform
standen, riß das Mädchen die
Tasche heraus und reichte sie
ihm hin.
„Haben Sie Mitleid, Herr,"
stöhnte das arme Ding mit tod-
blassem Gesicht.
Er nahm die Tasche und
ging ruhig an ihr vorbei.
„Danke, mein Fräulein,"
sagte er, und das Mädchen
fühlte plötzlich einen Briefum-
schlag in ihrer Hand, als er
schon die Türe des Bahnab-
teils hinter sich schloß.
„Anna, Anna, wo bleiben
Sie denn?" gellte die Stimme
ihrer Herrin. Sie nahm einem
Kellner eine Schale mit Eis
aus der Hand und ging zu ihr.
Das Mädchen verrichtete für
die Dame verschiedene kleine
Arbeiten und sah mit dankbarer
Erleichterung, daß der Ru-
mäne, der von mehreren Her-
ren erwartet worden war, den
Bahnhof verließ.
Frau Wertheim stand jetzt
mit anderen Reisenden plau-
dernd im Gang und erzählte einer Dame, die eben erst den Zug bestiegen
hatte, die Erlebnisse dieser Fahrt. Niemand kümmerte sich um Anna, und
das Mädchen konnte einen Blick in den Briefumschlag werfen, der wie
Feuer in ihrer Hand brannte. Eine Banknote zu tausend Frank. Um Gottes
willen, wofür?
„Denken Sie nur," hörte sie ihre Herrin erzählen, „wir wurden fast
eine Stunde auf offener Strecke aufgehalten und unsere Koffer bis auf
den Grund durchsucht, weil man den österreichischen Banknotenfälscher
Neumann im Zuge glaubte. — Aber es war natürlich ein Irrtum."
„Anna, sind Sie krank?" fragte Frau Wertheim ein paar Minuten
später, als sie ihre Jungfer ansah. Das Mädchen verneinte und bat nun,
in ihr Abteil gehen zu dürfen, wo sie beinahe zusammenbrach.
Sie ging am nächsten Tage in eine Wechselstube am Bahnhof und
reichte dem Beamten die Note hin.
„Meine Dame hat eine falsche Banknote bekommen," sagte sie und
fühlte mit Schreck, wie ihre Stimme zitterte. Der Beamte sah sie auf-
merksam und mißtrauisch an, als er den Geldschein nahm und sich damit
entfernte. Er kam nach einer Minute zurück.
„Die Note ist echt, Fräulein," sagte er, als er den Schalter schloß.


Männerherzen / Nach einer Kunstphotographie von Karl Hansen, Berlin-Lankwitz


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