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Buchner, Ernst; Jantzen, Hans [Gefeierte Pers.]
Das deutsche Bildnis der Spätgotik und der frühen Dürerzeit: [Hans Jantzen zum 70. Geburtstag] — Berlin, 1953

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https://doi.org/10.11588/diglit.31127#0014
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entdecken und einem neuen Raumgefühl, einem neuen Begriff von kraftgeladener Körperlichkeit zum
Durchbruch verhelfen. Man sollte meinen, diese Generation der Pioniere müßte sich mit Feuereifer auf
die neue Bildnisaufgabe gestürzt haben. Das hat sie nicht getan. Es fällt auf, daß die mit mächtigem
Griff den plastischen Raum und die farbige Natur erfassende Witzgeneration das Einzelbildnis mit
wenigen Ausnahmen meidet. Wohl liebt sie das anspringend Charakteristische, das dumpf Animalische,
den wuchtigen Charakterkopf, aber sie kümmert sich wenig um das seelische Sondersein des Menschen.
Sie war dazu zu expansiv, zu wenig besinnlich. Erst um und kurz nach der Jahrhundertmitte setzt
die selbständige Bildnismalerei im deutschen Kunstgebiet in größerem Umfang ein. Man kann nicht
sagen, daß es ein zaghafter Beginn war, wie man überhaupt der Entwicklung der spätgotischen Bildnis-
malerei nicht mit einem primitiven Fortschrittsschema (Vervollkommnung im Sinne fortschreitender
Wirklichkeitsbeherrschung) beikommen kann. Wenn wir vom jungen Dürer und vom frühen Cranach
absehen, fallen mit die stärksten Bildniswürfe, der wunderbar durchgeistigte Graf Löwenstein des
Hans Pleydenwurff (Abb. 138) oder der wuchtige Stadtschreiber (der sog. Pius Joachim) des Augsburger
Meisters der Ulrichslegende (Abb. 55), in die Zeit kurz vor oder um 1460, Bildniswerke, auf denen nieder-
ländische Anregungen mit Geist und Standfestigkeit verwertet sind. Auf Pleydenwurff folgt Wolgemut
— und das ist keine Steigerung. Großväter und Enkel stehen sich an Wuchs und Wertfülle off näher als
Väter und Söhne. In den letzten Jahrzehnten des Saeculums häufen sich die Bildnistafeln und die ein-
zelnen Stammes- und Stadtschulen, vor allem Nürnberg, Augsburg, Ulm, Köln, München, Mem-
mingen, der Mittelrhein, österreich und Tirol prägen sich schärfer aus, entwickeln ein kräftiges Eigen-
leben. Obgleich die sich allmählich durchsetzende Porträtmalerei zuweilen in die Breite und nicht in
die Tiefe geht, bilden doch die Bildnistafeln der Spätgotik im Ganzen ein reiches, charaktervolles,
ungemein farbiges Vorspiel zu der großartigen und glanzvollen Entfaltung der deutschen Bildnismalerei
in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Die Verteilung der Bildnisse auf die Stammes- und Stadtschulen, auf die einzelnen Meister stößt in
nicht wenigen Fällen auf erhebliche Schwierigkeiten. Denn wir sind noch weit davon entfernt, für die
spätgotische deutsche Malerei eine kunsthistorische Landkarte ohne erhebliche weiße Flecken zu besitzen;
noch gibt es Meisterwerke spätgotischer Malerei, deren Heimat nicht gefunden ist. Ferner erschwert die
Bildnisaufgabe die Anlegung der stilkritischen Sonde. Die ungewohnte, unmittelbare Auseinandersetzung
des Malers mit dem individuellen Naturvorbild droht die am Heiligenbild geschulte, selbstverständ-
liche Stilsicherheit zu untergraben. Die neuartige Bildnisaufgabe macht ihn befangen. Der Wurzelgrund
der künstlerischen Persönlichkeit ist beim Bildnisauftrag schwieriger zu erfassen. Oft fehlt jeder äußere
Anhaltspunkt (Kostüm, Material, historische Hinweise, wie Wappen, Provenienz etc.), um eine Bildnis-
tafel örtlich und zeitlich genauer zu fixieren. So ist in manchen Fällen vorerst nicht ohne Hypothesen und
Fragezeichen auszukommen. Immer wieder ist zu bedenken, daß sich nur ein Bruchteil des ursprünglichen
Bestandes an Bildnissen erhalten hat und daß sich der Verlust nicht gleichmäßig auf die verschiedenen
Stammes- und Stadtschulen verteilt.

Trotz diesen in der Natur des Gegenstands und in der Situation der kunsthistorischen Erkenntnis grün-
denden Schwierigkeiten liegt die große Linie der Entwicklung und die Schwerpunktverteilung der spät-
gotischen Bildnisproduktion im wesentlichen klar. Die meisten Konterfetter sitzen in den volkreichen,
kraftvoll sich entwickelnden Reichsstädten mit ihrer erwerbstüchtigen, selbstbewußten und stolzen Bürger-
schaft. Es ist der fruchtbare Kulturboden, aus dem die großen Bildnismeister, Dürer und Holbein, wachsen.
Allen voran steht Nürnberg, in dem mehr als ein Viertel aller erhaltenen spätgotischen deutschen Bild-
nisse entstanden ist. Günstige wirtschaffliche Voraussetzungen, kunstbereite Bürger und ein künstlerisches

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