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Busch, Werner
Die notwendige Arabeske: Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.52657#0011
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Vorbemerkung
Die Begriffe des Untertitels »Wirklichkeitsaneignung« und »Stilisierung« mögen auf den
ersten Blick ein wenig modisch anmuten. Doch haben beide ihren kunsthistorischen
Ursprung im 19. Jahrhundert, und wir beabsichtigen durchaus, ihre dort entworfene
Bedeutungsdimension im folgenden zu nutzen.
Der Begriff »Stilisierung« in kunsthistorischen Zusammenhängen ist ein Beiprodukt der
großen Debatte über die Stil-Kategorie in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahr-
hunderts. Wie jeder gute Begriff ist er nicht etwa in abstrakt wissenschaftstheoretischem
Diskurs entstanden, sondern hatte seine ganz praktisch tagespolitische Funktion.
1842/43 zogen die riesigen belgischen Historienbilder von Gallait, de Bievfe und de Key-
ser in einem wahren Triumphzug durch Deutschland, von Ausstellung zu Ausstellung. Ihr
Erscheinen spaltete die deutsche Kunstöffentlichkeit und -kritik in zwei Lager. Die Gegner
der belgischen Bilder warfen diesen vor, ihnen fehle jegliche Idealität, sie zeigten nichts als
die plumpe Wirklichkeit; die Anhänger der Belgier hielten ihren Kritikern dagegen vor,
ihre Argumentation laufe darauf hinaus, Kunst auf ein jegliche Lebendigkeit abtötendes
Stilisieren zu reduzieren. In der Tat lautete die Paarung: Stilisten contra Realisten oder
auch: Münchner gegen Belgier oder etwas später, wenn auch nicht mit ganz der gleichen
Berechtigung: Münchner gegen Düsseldorfer Malerschule.
Kugler stellt 1843 »die volle Unmittelbarkeit der Existenz« der Belgier gegen die lebens-
fremde »Stylistik« der Münchner, »deren Erstarrung wir befürchten müssen«1. Vormärz-
lich wird die eine Kunst aristokratisch, die andere demokratisch genannt. 1844 heißt es von
noch entschiedenerer Warte aus bei Ludwig Igelsheimer: »Die Münchner Historienmale-
rei, eingezwängt in stylistische Formen und unbekümmert um die Farbe, läßt den Sinnen
zu wenig Recht widerfahren, während die belgischen Künstler die Farbe ebenso wie die
Form als poetisches Mittel benutzen, um ihre Gestalten so konkret als möglich hervorzu-
heben«. Ferner im selben Text: »Die belgischen Gemälde nun geben Individuen und zwar
scharf ausgeprägte Individuen, welche sich frei und selbstbewußt gehenlassen; und so füh-
len auch wir uns frei bei ihrer Betrachtung. Die Münchner dagegen geben uns stylisierte,
unfreie, unter das Joch des Künstlers geknechtete Gestalten... «2. Ein letztes Zeugnis für
das sich schnell durchsetzende kritische Instrumentarium der Wirklichkeitsvertreter sei
aus einem die Diskussion zusammenfassenden Beitrag von Friedrich Theodor Vischer,
ebenfalls aus dem Jahre 1844, zitiert: »Die Lebenswärme, welche Fr. Kugler bei Cornelius
vermißt, fehlt den Werken dieser Schule nicht darum, weil an sich diese idealen Gestalten

1 Franz Kugler, Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Förster in München über die beiden Bilder von
Gallait und de Biefve, in: Kunstblatt 59, 25. Juli 1843, S. 247.
2 Ludwig Igelsheimer, Die belgischen Bilder. Eine Parallele mit der Münchner Schule, in: Jahrbü-
cher der Gegenwart 2, 1844, S. 24, 28.

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