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Busch, Werner
Die notwendige Arabeske: Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.52657#0016
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basieren, die uns scheinbar die angemessenen Kriterien der Beurteilung bereitstellt. Ver-
fahren wir ihnen gemäß, so fügt sich etwa das Historienbild des 19. Jahrhunderts in der Tat
bruchlos in den großen Traditionszusammenhang, auch etwa die Landschaft ist immer
noch idealisierte Natur, komponiert nach den klassischen Gesetzen. Und die Künstler, das
macht das Problem nicht einfacher, hätten die Verpflichtung auf diese Tradition durchaus
noch unterschrieben. Aber warum sieht die Madonna dann unvermeidlich nach Töchter-
schule aus? Und warum bleibt, wenn wir ehrlich sind, das Unbehagen vor so vielen Bildern
des 19. Jahrhunderts? Offenbar gab es im 19. Jahrhundert der Tradition gegenüber so etwas
wie ein zumeist nicht eingestandenes Schamgefühl. Der Sündenfall der Erkenntnis, daß
Form und Inhalt nicht mehr bruchlos eins waren, ließ sich offenbar nicht mehr ungesche-
hen machen. Eine These könnte lauten: überall da, wo die Kunst im 19. Jahrhundert sich
diesen Bruch eingesteht, ihn zu ihrem Thema macht, da »gelingen« ihr Kunstwerke. Oder
anders ausgedrückt: Aufgabe des Kunsthistorikers sollte es sein, über die forschende An-
schauung in der Struktur der Werke, in der Erscheinung der gestalteten Form diese Brüche
ausfindig zu machen, ihre Art und Funktion zu beschreiben. Es geht nicht darum,
bloß Gedankliches auszumachen, sondern darum, einsichtig zu machen, daß im Kunst-
werk vom Wesen der Zeit etwas zum Vorschein kommt. Eine Binsenweisheit lautet: jedes
Kunstwerk trägt notwendig den Stempel seiner Zeit -wie auch anders. Doch das ist nicht
(allein) gemeint; gemeint ist vielmehr, daß es diesen Zeitcharakter in seinem Entstehungs-
prozeß transzendiert hat und so im fertigen Werk aufbewahrt, aufhebt. These: aufweisbar
ist das eben nur an den irritierenden Phänomenen, an den kleinen Ungereimtheiten, an
bisher übersehenen und vielleicht verwundernden Strukturmerkmalen, von denen aus
betrachtet sich das Werk gänzlich neu darstellen kann. Diese Strukturmerkmale können
individueller oder gattungsspezifischer Art sein, aber auch als individuelle verweisen sie
auf verarbeitete Zeiterfahrung.
Wenn wir in Kapitel 1 als Strukturmerkmal der Arabeske etwa ihr Aufwachsen aus einem
Ursprungsort und ihre Auflösung auf ihrem Höhepunkt begreifen, dann erschließt sich
plötzlich eine über das ganze Jahrhundert reichende Kette von Kunstwerken in ihrer
Bedeutung - sofern man zudem die jeweils historische Ausprägung in der Verwendung des
Strukturmerkmals nicht außer acht läßt. Wenn wir in Kapitel 2 in Kaulbachs »Narrenhaus«
ganz simpel einen gewissen Gruppenfoto-Charakter der Darstellung ausmachen, womit
wir eine seltsame leichte Art der Erstarrung meinen, eine Form der Stilisierung, dann kom-
men wir vielleicht dem sich in Kaulbachs Darstellung niederschlagenden problematischen
Verhältnis von Kunst, Natur und Wissenschaft auf die Spur. Und wenn wir schließlich in
Kapitel 3 einerseits etwa auf die ungelösten Vordergrundprobleme der Ölskizze, anderer-
seits auf die anatomischen Verzeichnungen der großen Figurenkartons aufmerksam wer-
den, dann haben wir plötzlich einen Schlüssel in der Hand, um die besonderen Formen der
Wirklichkeitsaneignung im 19. Jahrhundert, sei es durch Wandlungen im körperlich-motori-
schen Malakt, sei es durch bewußtes, intellektuelles Stilisieren, vielleicht tiefer zu begreifen.
Eine erweiterte Fassung dieser Arbeit ist 1979 von der Philosophischen Fakultät der
Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Habilitationsschrift angenommen
worden.

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