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Busch, Werner
Die notwendige Arabeske: Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.52657#0135
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rahmen und eine abstrakte Arabeske aus sich heraus entwickeln, die den von Musen
bekränzten und von seinem Genius geleiteten Goethe in himmlischen Regionen seinen
früh verstorbenen Dichterkollegen Schiller wiedertreffen läßt. Drei Ebenen sind deutlich,
die irdisch-reale mit dem toten Goethe und der Sonne als Quelle, die allegorische mit den
Figuren von Sage und Geschichte (oder Dichtung) und die symbolische, mit der Begeg-
nung von Goethe und Schiller.
Ähnlich ergeht es der Aktie. Die fünfprozentige Staatsanleihe gibt den faktischen Aus-
gangspunkt; ausgegeben in Aktien zum Nominalwert von 500 Lei nährt sie Industrie und
Handel, deren allegorische Figuren an der Basis umrankter Säulenschäfte sitzen, die die
sich entwickelnden Hauptzweige des Geschäftsganges verkörpern; an ihren Spitzen halten
geflügelte Genien eine Kartusche mit dem Symbol dieser schließlich zum Wohl des Staates
zusammenwirkenden Kräfte - der Industrie- und Handelskammer. Wie Neureuthers
Klettsche Fabrik schwebt die Kammer, wie von einem Wolkenschleier umgeben'49, aus
dem Stadtzusammenhang isoliert, im Raum, damit um so mehr ihren Symbolcharakter
betonend, aber auch ihren Absolutheitsanspruch.
Es schließt sich der Kreis, wenn man daran erinnert, daß Clemens Brentanos Bruder
Christian 1811, wie es bei Clemens heißt, »Rungische Randzeichnungen« für eine Aktie fer-
tigte, die er - allerdings ohne Erfolg - für das in eine Aktiengesellschaft umgewandelte brü-
derliche Landgut in Böhmen herausgeben wollte. Sie sind, was Clemens Brentano auch
bemängelt, höchst ungeschickt gezeichnet, weisen jedoch bei aller Beschränkung auf
umrandete Bildfelder die Grundprinzipien der entwickelten arabesken Aktie bereits auf.
Zu den Seiten wachsen Efeuranken auf, die links und rechts in Harke bzw. Sense enden; sie
folgen in der Form späten Rungeschen Umschlagentwürfen. Darüber wölbt sich das Pano-
rama der Landschaft um den Brentanoschen Landsitz, mit diesem im Zentrum. Der
abstrakte Wert der Aktie findet sein arabeskes Bild in dem Hinweis auf die konkrete men-
schliche Arbeit, die das Landgut »florieren« lassen soll - was man bie der arabesken Form
dieses Bildes ganz wörtlich nehmen kann349 350.
Schluss
Die Geschichte der Arabeske von der Frühromantik bis zur Wilhelminischen Ära ist in
ihren Hauptphasen und Verwandlungsmöglichkeiten verfolgt worden. Die naturmystische

349 Es ist denkbar, in diesem Motiv auch einen Reflex auf die frühe Photographie zu sehen.
350 s. Kat. Ausst. Clemens Brentano 1778-1842, Freies Deutsches Hochstift - Frankfurter Goethe
Museum, Frankfurt 1978, S. 57 und Kat. Nr. 56 (mit Abb.). Es soll hier nicht etwa behauptet wer-
den, die Aktie sei auch historisch gesehen das Endprodukt der Arabeskenentwicklung - vollstän-
dig ausgebildete arabeske Aktien gibt es spätestens seit Mitte des Jahrhunderts -, aber es ist wich-
tig zu betonen, daß in der Tat erstund allein die Aktie und der Geldschein jede auch nur denkbare
Wendung der Phantasie des Künstlers in den Dienst nehmen. Ein frappierenderes Symbol für den
Zusammenhang von Kunst und Ökonomie ist kaum zu denken. Zudem findet sich die klassische
Arabeskenform in Aktie und Geldschein historisch am längsten bewahrt, im Grunde genommen
bis in die Gegenwart, was ihre ausgeprägte Nützlichkeit belegt.

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