Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Trendelenburg, Adolf
Programm zum Winckelmannsfeste der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin (Band 70): Phantasiai — Berlin, 1910

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2163#0005
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
I. Die (pavraaiat des Theon von Samos

In besonderer Blüte, heißt es bei Quintilian XII 10, 6, stand die Malerei um die Zeit
Philipps und bis zu den Nachfolgern Alexanders, jedoch infolge verschiedener Vorzüge. Denn
durch Sorgfalt zeichnet sich Protogenes am meisten aus, als Theoretiker Pamphilus und Me-
lanthius, durch Leichtigkeit der Ausführung Antiphilus, durch lebendiges Erfassen von Vor-
stellungen, die (pavTafficu heißen, Theon von Samos1). Die deutsche Kunstsprache hat keinen
Begriff geprägt, der dem griechischen (pavTciaiai, das Quintilian durch visiones wiedergibt,
entspräche. Der Ausdruck ist der Schulsprache der Khetorik entnommen. Auf sie muß also
zurückgehen, wer ihn verstehen will. Von dem Gedanken ausgehend, daß nichts einem andern
Farbe verleiht, die es selbst nicht hat, und daß selbst in Stimmung sein muß, wer andre in
Stimmung versetzen will2), führt Quintilian VI 2, 29ff. folgendes aus: qpavTacricu nennen
die Griechen — wir mögen dafür immerhin (wenn auch der Ausdruck nicht erschöpfend ist)
visiones sagen — die Seelenkräfte, vermöge deren wir Bilder abwesender Dinge uns so lebhaft
vorzustellen imstande sind, daß wir sie mit Augen zu sehen und leibhaftig vor uns zu haben glauben.
Wer solche Vorstellungen lebendig erfaßt, wird in Stimmungen sehr stark sein, d.h. er wird selbst
starke Empfindungen haben und demgemäß auch in anderen starke Empfindungen auslösen.
Man nennt phantasievoll den, dessen Vorstellungen von Dingen, Äußerungen, Vorgängen der

Wirklichkeit am betten entsprechen werden...... Ich führe Klage über die Ermordung eines

Menschen. Werde ich nicht alles, icas im Augenblick der Tat vermutlich geschehen ist, vor Augen
haben? Wird nicht der Mörder unversehens hervorbrechen? Sich nicht entsetzen, wenn man
ihn stellt? Aufschreien, bitten oder davonlaufen? Werde ich nicht vor mir sehen, wie jener
zuschlägt, dieser zusammenbricht? Steht nicht vor meinem Innern das Blut, die Totenblässe,
das Stöhnen, endlich das letzte Öffnen der Lippen im Verscheiden?3)

a) Floruit autem circa Philippum et usque ad successores Alexandri pictura praecipue, sed diversis
virtutibus. nam cura Protogenes, ratione Pamphilus ac Melanthius, facilitate Antiphilus, concipiendis visioni-
bus, quas «pavTctöias vocant, Theon Samius est praestantissimus. Brunn, Oesch. d. gr. Künstler II 252 ff.

a) . . . nee res ulla dat alten colorem, quem non ipsa habet, primum est igitur, ut . . . adficiamur,
antequam adficere conemur. Quint. VI 2, 28.

3) Quas tpa\naoia<; Graeci vocant—nos sane visiones appellemus—, per quas imagines rerum absentium
ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur; has quisquis beno coneeperit,

1*
 
Annotationen