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Christlicher Kunstverein der Erzdiözese Freiburg [Hrsg.]
Christliche Kunstblätter: Organ des Christlichen Kunstvereins der Erzdiözese Freiburg — 15.1876

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https://doi.org/10.11588/diglit.7193#0018
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dieſes Zweckes willen eingefügten Momente lyriſchen Ver-
weilens zu der bisher einzig für möglich erachteten muſika-
liſchen Ausführung tauglich gehalten wurde. Die Muſik iſt
es, was uns, indem ſie unabhängig die Motive der Hand-
lung in ihrem verzweigteſten Zuſammenhange uns zur Mit-
empfindung bringt, zugleich ermächtigt, eben dieſe Handlung
in draſtiſcher Beſtimmtheit vorzuführen. Da die Handelnden
über ihre Beweggründe im Sinne des reflectirenden Bewußt-
ſeins ſich uns nicht auszuſprechen haben, gewinnt hier der
Dialog jene naive Präciſion, welche das Leben des Drama's
ausmacht.'' Das liest ſich ſehr ſchön; aber in der Ausfüh-
rung iſt Wagners Abſicht keineswegs erreicht und die totale
Verſchmelzung von Oper und Drama nach wie vor ein
Wahn. Wagner unterbindet durch dieſe angebliche Gleich-
berechtigung von Wort und Ton gleichmäßig die Wirkung
des einen wie des andern. Der Ton will ſich ausbreiten,
das Wort weiterdrängen; darum gehört naturgemäß der
fortlaufende Dialog dem Drama, die geſungene Melodie der
Oper. Dieſe Scheidung iſt nicht das Widernatürliche; im
Gegentheil iſt Wagners Methode, beide Kunſtgattungen in
eine aufzuheben, widernatürlich. Das unnatürliche Sing-
ſprechen oder Sprechſingen der Wagner'ſchen , Nibelungen
erſetzt uns weder das geſprochene Wort des Drama's, noch
das geſungene der Oper. Erſteres ſchon darum nicht, weil
man bei den meiſten Sängern den Text gar nicht verſteht,
und ſelbſt bei den beſten nur ſtellenweiſe. Da aber der ſce-
niſchen Wirkung wegen der Zuſchauerraum des ,,Feſtſpiel-
hauſes'' gänzlich verfinſtert wird, ſo entfällt jede Möglich-
keit, im Textbuche während der Vorſtellung nachzuſehen.
Wir ſitzen daher rathlos und gelangweilt dieſen unendlich
langen Dialogen der Sänger gegenüber, gleichzeitig dürſtend
nach der deutlichen Rede, wie nach der allzeit verſtändlichen
Melodie. Und was für ein Dialog! Niemals haben Men-
ſchen ſo, mit einander geſprochen (wahrſcheinlich auch Götter
nicht) . Hin- und herſpringend in entlegenen Jntervallen,
immer langſam, pathetiſch übertrieben und im Grunde Einer
genau wie der Andere. Nachdem im ,,Muſikdrama'' die han-
delnden Perſonen nicht durch den Charakter ihrer Geſangs-
melodien unterſchieden werden, wie in der alten ,,Oper''
(Don Juan und Leporello, Donna Anna und Zerline, Max
und Caspar), ſondern in dem phyſiognomiſchen Pathos ihres
Sprechtones einander ſammtlich gleichen, ſo trachtet Wagner
dieſe Charakteriſtik durch ſogenannte Erinnerungs- oder Leit-
motive im Orcheſter zu erſetzen. Bekanntlich gab Wagner
dieſer muſikaliſch-pſychologiſchen Hilfe eine größere Ausdeh-
nung ſchon im Tannhäuſer und ,,Lohengrin'; er ſteigerte
ſie zum Uebermaß in den ,, Meiſterſingern' und complicirt
ſie in den ,,Nibelungen'' zum förmlichen Rechenexempel.
Leicht behält man die paar melodiſch-rhythmiſch prägnauten
Leitnotive des ,, Tannhäuſer ' und ,,Lohengrin''. Aber wie
gebahrt ſich Wagner damit in den , Nibelungen''? Darauf
antwortete uns eine hier überall zum Verkauf ausgebotene
Broſchüre von H. v. Wolzogen: Thematiſcher Leitfaden'',
ein muſikaliſcher Bädeker, ohne welchen hier kein anſtändiger
Touriſt auszugehen wagt. Fern von Bayreuth dürfte man
ein ſolches Handbuch komiſch finden; das Ernſthafte und
Traurige daran iſt nur daß es nothwendig iſt. Nicht
weniger als neunzig Stück Leitmotive führt Hr. v. Wolzogen
mit Namen und Noten auf, welche der geplagte Feſtſpiel-
beſucher ſich einprägen und in dem Tongedränge von vier
Abenden überall herauskennen ſoll. Nicht blos Perſonen,
auch lebloſe Sachen haben hier ihre Leit- oder Leibmotive,
die bald da, bald dort auftauchen und in die myſteriöſeſten
Beziehungen zu einander treten. Da haben wir das Ring-
motiv die Motive der Knechtung, der Drohung, des Rhein-

goldes, das Rieſen- und Zwergenmotiv, das Fluchmotiv
das Tarnhelmmotiv, das Leitmotiv ,,des matten Sigmund'',
das Schwert⸗, das Drachen⸗, das Rachewahnmotiv, die
Motive Alberichs, Siegfrieds, Wotans u. ſ. f. bis Nr. 90.
Dieſe reiche muſikaliſche Garderobe, die jeder der Helden
mitbekommt, wird aber nur zu ſeinen Füßen, im Orcheſter,
gewechſelt; auf der Bühne haben ſie von Melodien gar
nichts an. Mit wenigen Ausnahmen (Walkürenritt, Wal-
halla, Ambosmotiv, Siegfrieds Hornruf) ſind die Leitmotive
im ,,Nibelungenring'' von geringer melodiöſer und rhyth-
miſcher Prägung, aus wenigen Noten beſtehend und ein-
ander häufig ähnelnd. Nur ein ungewöhnlich begnadetes Ohr
und Gedächtniß wird ſie alle zu behalten vermögen. Und
gelingt uns dies, haben wir wirklich erkannt, daß das
Orcheſter hier eine Anſpielung auf die Götter, dort auf die
Rieſen, dann auf die Götter und Rieſen zugleich macht —
was iſt damit Großes gewonnen? Ein reiner Verſtandes-
proceß, ein reflectirtes Vergleichen und Beziehen. Die ,,Nibe-
lungen''-Muſik weist fortwährend neben und über ſich hinaus.
Ein volles Genießen und Empfinden wird unmöglich, wenn
Verſtand und Gedächtniß ununterbrochen auf der Lauer ſtehen
ſollen, um Anſpielungen zu fangen. Dieſe myſtiſch-allegoriſche
Tendenz in Waguers ,, Nibelungenring'' erinnert vielfach an
den zweiten Theil des Göthe'ſchen ,,Fauſt'', welcher gerade
dadurch an ſeiner poetiſchen Wirkung einbüßt, weil der
Dichter ſo viel ,,hineingeheimnißt'' hat, was nun als Räthſel
den Leſer quält. Manches goldene Wort das Viſcher in
ſeinem neueſten Buche über das allegoriſche Weſen des
zweiten Theiles ausſpricht, paßt auf den Charakter des
neueſten Wagner'ſchen Muſikdrama's. Auch dieſes iſt in
Text und Muſik ,eine Dichtung, die man ohne gelehrten
Schlüſſel nicht verſteht, die daher bemüht und beunruhigt,
ſtaft zu erbauen.'' Freilich kommen wir ſchließlich auch auf
Viſchers Reſultat, daß, ,,wo es ſich um äſthetiſche Diagnoſe
handelt, ſich durch den Beweis leider nichts erreichen läßt.''
Ob ein beſtimmtes Tonwerk der Tiefe muſikaliſcher Empfin-
dung entquollen ſei oder aus der Retorte geiſtreicher Berech-
nung, das kann, ſo evident es dem Einzelnen einleuchtet,
wiſſenſchaftlich nicht bewieſen werden. Es ſcheint mir Viſchers
Satz für die Muſik ganz vorzugsweiſe zu gelten, ,,daß man
das Gefühl der Schönheit des poetiſchen Lebens Niemanden
andemonſtriren kann.'' Jn der alten, vornibelungiſchen
,,Oper'' folgt die Compoſition den allgemeinen Geſetzen
muſikaliſcher Logik, bildet eine Reihe durch ſich ſelbſt ver-
ſtändlicher, abgeſchloſſener Organismen. Die Meiſter gaben
uns in der ,,Oper'' Muſik, die durch die Einheit verſtänd-
lich, durch ihre Schönheit erfreuend und dabei durch ihre
innigſte Uebereinſtimmung mit der Handlung dramatiſch war.
Sie haben hundertfach gezeigt, daß die von Wagner ver-
pönte ,,abſolute Melodie'' zugleich eminent dramatiſch ſein
und in mehrſtimmigen Sätzen, namentlich in den Finales,
die fortſchreitende Handlung energiſch zuſammenfaſſen und
abſchließen kann. Den mehrſtimmigen Geſang, Duette, Ter-
zette, Chöre, als angeblich ,,undramatiſch aus der Oper
entfernen, heißt die werthvollſte Errungenſchaft der Tonkunſt
ignoriren und um zwei Jahrhunderte zurück wieder in die
Kinderſchuhe treten. Es iſt der ſchönſte Beſitz, der eigen-
thümlichſte Zauber der Muſik, ihr größter Vortheil vor dem
Drama, daß ſie zwei und mehrere Perſonen, ganze Volks-
mengen kann ſich ausſprechen laſſen. Dieſen Schatz, um den
der Dichter den Muſiker beneiden muß, wie dies Schiller
bei der Dichtung ſeiner ,,Braut von Meſſina'' ſo tief empfand,
hat Wagner als überflüſſig zum Fenſter hinausgeworfen.
Es mögen im ,,Nibelungenring'' zwei, drei oder ſechs Per-
ſonen auf der Bühne nebeneinanderſtehen, niemals ſingen
 
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