Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Christlicher Kunstverein der Erzdiözese Freiburg [Hrsg.]
Christliche Kunstblätter: Organ des Christlichen Kunstvereins der Erzdiözese Freiburg — 15.1876

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7193#0017
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Chriſtliche

Kunſtblätter.

Organ des chriſtlichen Kunſtvereins der Erzdiöceſe reiburg
(Beilage zum Freiburger Kirchenblatt.)

Nro. 160.

Domine dilexi decorem domus tuae. Ps. 25, 8.

1876.

Die Feſtſpiele von Bayrenth.

ſind, als zwei Dinge innerhalb dieſer Kunſt nur ſein können
Man kann den ,,Tannhäuſer'' für eine der ſchönſten Opern
und trotzdem die ,,Nibelungen'' für das gerade Gegentheil
halten, ja eigentlich muß man es dann. Denn was das
Glück von Wagners früheren Opern machte und zu machen
noch fortfährt, iſt die ſtete Verbindung des ſchildernden,
ſpecifiſch dramatiſchen Elementes mit dem Reiz der faßlichen
Melodie, die Abwechſelung des Dialogs mit muſikaliſch ge-
dachten und geformten Enſembles, Chören, Finalen; Alles,
was an dieſe Vorzüge mahnt, hat Wagner in den ,,Nibe-
lungen'' bis auf die Spur getilgt. Selbſt die ,,Meiſterſinger'',
in welchen die abgeſchloſſene Geſangsmelodie ſeltener, aber
dafür in einigen Prachtexemplaren auftritt (Preislied, Quartett,
Chöre im letzten Act), erſcheinen daneben als ein muſikaliſch
reizvolles und gemeinfaßliches Werk.
Wagners ,,Nibelungenring'' iſt in der That etwas völlig
Neues, von allem Früheren Grundverſchiedenes, ein für ſich
allein daſtehendes Unicum. Als ſolches, als ein geiſtreiches,
für den Muſiker unerſchöpflich lehrreiches Experiment wird
das Werk ſeine bleibende Bedeutung haben. Daß es jemals
in's Volk dringen werde, wie die Opern Mozarts oder
Webers, ſcheint mir aus der Natur desſelben ganz un-
wahrſcheinlich. Drei Hauptpunkte ſind es, welche die Muſik
von allen bisherigen Opern, auch von Wagner'ſchen, prin-
cipiell unterſcheiden. Erſtens: das Fehlen der ſelbſtſtändigen,
abgeſchloſſenen Geſangsmelodien, an deren Stelle eine Art
erhöhter Recitation tritt, mit der ,,unendlichen Melodie'' im
Orcheſter als Baſis. Zweitens: die Auflöſung jeglicher Form,
nicht bloß der herkömmlichen Formen (Arie, Duett rc.), ſon-
dern der Symmetrie, der nach Geſetzen ſich entwickelnden
muſikaliſchen Logik überhaupt. Endlich drittens: die Aus-
ſchließung der mehrſtimmigen Geſangsſtücke, der Duette,
Terzette, Chöre, Finale, bis auf einige verſchwindend kleine
Anſätze.
Hören wir des Meiſters eigene Worte über ſeine neue
muſikaliſche Methode in den ,,Nibelungen''. ,,Er habe'', ſagt
Wagner (JX. B. S. 366), ,,den dramatiſchen Dialog ſelbſt
zum Hauptſtoff auch der muſikaliſchen Ausführung erhoben,
während in der eigentlichen , Oper'' die der Handlung um

Jetzt, wo die Tage von Bayreuth hinter uns liegen und
Freunde und Gegner der Wagner' ſchen Schöpfungen ruhiger
und leidenſchaftsloſer die Vorzüge und die Mängel des neuen
Muſikdrama's gegen einander abwägen können, wird es beiden
Theilen von Jntereſſe ſein, das abſchließende Urtheil kennen
zu lernen, in welchem der bekannte Muſikkritiker Profeſſor
Ed. Hanslik den Totaleindruck der Aufführungen zu-
ſammenfaßt. Er ſchreibt in der ,,Neuen Freien Preſſe'
,Mit der nunmehr vollſtändigen Ausführung des Bay-
reuther Programms iſt die Muſik der Zukuunft eine Macht
der Gegenwart geworden: äußerlich wenigſtens und für den
Augenblick. Auf kunſtgeſchichtliche Weiſſagungen läßt der
Kritiker ſich ebenſo ungern ein, als ernſthafte Aſtronomen
auf das Wetterprophezeien; ſo viel jedoch hat für uns die
größte Wahrſcheinlichkeit, daß der Stil von Wagners ,,Nibe-
lungen' nicht die Muſik der Zukunft ſein wird, ſondern eine
von vielen. Vielleicht auch nur ein Gährungsferment für
neue zum Alten wieder zurückgreifende Entwickelungen. Denn
Wagners jüngſte Reform beſteht nicht in einer Bereicherung,
Erweiterung, Erneuerung der Muſik, in dem Sinne, wie
es die Kunſt von Mozart, Beethoven, Weber, Schumann
geweſen: ſie iſt im Gegentheil ein Umdrehen und Umzwän-
gen der muſikaliſchen Urgeſetze, ein Stil gegen die Natur
des menſchlichen Hörens und Empfindens. Man könnte von
dieſer Tondichtung ſagen: ſie hat Muſik, aber ſie iſt keine.
Um gleich Eines zur vorläufigen Orientirung des Leſers
hervorzuheben: Wir hören durch vier Abende auf der Bühne
ſingen, ohne ſelbſtſtändige, ausgeprägte Melodie, ohne ein
einziges Duett, Terzett, Enſemble, ohne Chöre oder Finale!
Dies allein beweist ſchon, daß hier das Meſſer nicht an
überlebte Formen, ſondern an die lebendige Wurzel der dra-
matiſchen Muſik gelegt iſt. Opernfreunde, welche ,, Triſtan''
und den ,,Nibelungenring'' nicht kennen, gaben ſich meiſtens
dem Argwohn hin, die Gegner dieſer Spätgeburten Wagners
ſeien Gegner Wagners überhaupt. Sie denken dabei immer
nur an den ,,Holländer'' oder , Tannhäuſer'', welche doch
von Wagners neueſter Muſik ſo fundamental verſchieden
 
Annotationen