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Christenthum hinter dem Kirchenthum zurückgedrängt war, ohne daß man ihm seine
Berechtigung absprach, so mußte damals auch die Malerei vor der Architektur zurück-
treten. Das Genie der Zeit war sür jene, nicht für diese vorhanden. Es sind
eben nicht alle Gaben einer Zeit gegeben.
Aber unrichtig und parteiisch ist es, wenn Thausing sagt, die gothische Bau-
kunst habe die Schwesterkünste zu bloßer Ornamentik herabgedrückt, wenn er über-
haupt urtheilt, die Gothik sei nicht sowohl der Ausdruck des bunten mittelalterlichen
Volkslebens, als der Wiederschein einer bestimmten, niemals wirklich durchgeführten
hierarchischen Weltanschauung. Solches widerlegen die vielen großartigen Compo-
sitionen jener Altarflügel, jener Gemälde über den Portalen der Kirchen, jener herr-
lichen Gestalten der Malerei, die im Chore der gothischen Kirchen prangten. Es
ist allerdings bei der Auflösung der großen Wandflächen in die mannichfachsten
Gliederungen, wie sie die Idee der Gothik mit sich brachte, nicht mehr möglich ge-
wesen, große Wandgemälde auszuführen; aber sie suchte nun die Malerei dadurch
zu entschädigen, daß sie in ihren gewaltigen Fensterflächen der wunderbarsten Ent-
wickelung der Farben und der reichsten Verwendung ihrer Mittel Raum bot, und
daß sie nun erst recht die Altäre und den Chor zu den Stätten bestimmte, wo die
Malerkunst in größeren Compositionen sich Geltung zu erringen vermochte.
Daß aber der gothische Stil das Produkt einer hierarchischen Weltanschauung
sei, bestreiten wir so entschieden, daß wir das gerade Gegentheil behaupten. Das
beweist schon der Eine Umstand zur Genüge, daß in dem Lande, wo die Hierarchie
ihren Scepter führte, also in Italien und Südfrankreich, der gothische Stil nie so
recht einheimisch wurde. Gerade in den Ländern, wo man sich am entschiedensten
der Hierarchie entgegen stellt, in Nordfrankreich, Deutschland, England, ist der
gothische Stil am vollendetsten entfaltet worden. Der gothische Stil ist vielmehr ein
Produkt des Nordens, des germanischen Geistes, mit seiner titanenhaft zum Himmel
emporstrebenden Kraft; ich möchte sagen, die Gothik ist die Uebertragung des Prin-
zipes der Malerei in die Baukunst. Das Irdische wird ein Gleichniß des Himm-
lischen, alle materiellen Formen weisen über sich hinaus, sie verkörpern, so viel es
nur möglich ist, die Unendlichkeit des Geisteslebens, aber sie sprechen zugleich auf
das allerbestimmteste aus, daß sie nicht hinreichen für die volle Ausgestaltung der-
selben, daß es ein Höheres gebe, dem sich sehnend des Christen Seele entgegen
strecken müsse.
Man sollte also die alte Behauptung aufgeben, daß der gothische Stil der
Stil der Hierarchie sei. Will man überhaupt einen Stil der Hierarchie vindiziren,
was ich jedoch nicht für richtig halten kann, denn sie hat ja verschiedenen Stilen
gehuldigt, so würde ich eher den romanischen Stil für den ihr vorzugsweise ent-
sprechenden erklären. Denn was will die Hierarchie? Sie will das Reich Gottes
in der Diesscitigkeit betonen; sie will hervorheben, daß alle Kräfte der Ewigkeit
schon in der Kirche gegeben seien, daß die Seele nicht außer der Kirche und über
der Kirche den Frieden suchen solle, sondern daß die Priesterschaft schon alle Mittel
besitze, jegliche Sehnsucht zu befriedigen. Der Priester freut sich seiner Kirche, er
hat in ihr Alles, was soll er sich sehnen nach einem Hähern und Bessern, nach
einer Vollendung dieser allenthalben unfertigen Welt? Behäbig ist der Hierarch,
 
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