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hängend, hier die Natur ein Durchgangsmoment, dn sie dnrch die Frage nach
ihrem Werden zum Höchsten weist; dort der Genuß des Gegebenen, hier das
Suchen nach dem Geahnten. Wir wollen kurz anfügen: dort die Renaissance
der Antike, hier die Gotik, wenn nur uns auf die Endpunkte der eigensten,
gegenseitig nicht beeinflußten schöpferischen Thätigkeit beiderseits beschränken
wollen. Denn keineswegs sind die beiden Stilsormen als Ausdruck Umfessioneller
Anschauungen aufzufassen; insonderheit ist keineswegs, wie es von feiten ultra-
montan-romnntischer Kreise oft behauptet ist, die Gotik der typische katholische
Stil, i) Am Brennpunkt rind in den alten Domainen der römischen Hierarchie
kennt man die Gotik nicht, und wo die katholische Kirche germanisches Gebiet
umfaßt, muß sie sich uuter die Formeu germanischer Knust beugen. Das Moment
des Volkstums ist auch hier stärker als das konfessionelle. Und das gilt von
der gotischen Periode besonders. In ihr steht die Baukunst in enger Verbindung
mit dem Volk. Die Zeit der Kleriker-Baumeister ist zur Zeit der Blute des
Stils vorüber.
Wohl ist die tiefe religiöse Erregung eiu geueiusames Merkmal der ganzen
Zeit. Aber aus romanischem Gebiet wird sie naturgemäß mehr uach der sozialeu
Seite fruchtbar, auf germanischem individualisiert und verinnerlicht sie sich. Dort
konzentriert sie sich in der Idee des Papsttums, dort schafft sie die Ordens-
gründungen, hier die Scholastik und Mystik, wenn einmal in Umrissen gezeichnet
werden darf.
Der gotische Stil eine Bethätiguug germanischem Geistes! Überall, wo das
germanische Volkselement zur freien Entfaltung seiner Kräfte kommt oder doch
zu einen: bestimmenden Einfluß gelangt, da ist der Bereich der gotischen Archi-
tektur. Also nicht auf dem Boden des „Reiches" allein, sondern auch in den
Gebieten, in denen die germanische Rasse gleichsam latent vorhanden war, d. h.
einen solchen Bestandteil der Mischung ausmachte, daß ihr Einfluß auf deu mannig-
fachen Gebieten des Lebens, in den Rechtsauffassungen, den Kunstformen n. a.
vorwaltete. Angeln und Normannen, Franken, Burgunder und Langobarden,
sie haben den neuen Sitzen, die sie sich erkoren, mehr als den Namen gegeben.
Es ist gewiß bemerkenswert, daß innerhalb ein und desselben Landes das Reich
der gotischen Kunst nur von den Regionen gebildet wird, die unter germanischen
Einflüssen standen. Das ist in Italien die Lombardei, das sind in Frankreich
die angedeuteten nördlicheren Striche; Mittel- und Süditalien lassen die Gotik
zu den bekannten Mischformen verkümmern, Südfrankreich kennt sie nur in
wenigen Ausnahmen.
Und nun ein Blick aus die Formensprache dieser Kunst. Zur Trägerin
einer tiefen, mittelbaren und beinahe unbewußten Symbolik wird die Gotik aller-
dings, wie die Kunst aller jener naiv schaffenden Perioden. Freilich nicht jede
einzelne Fiale, nicht jeder gebrochene Bogen übernimmt da einen bestimmten Teil
der großen Aufgabe, die Gednnkeu des Volks und der Zeit auszusprechen, welche
Es ist das Verdienst Joh. Kraus' (die katholische Kirche und die Renaissance, Frei-
burg 1889), darauf ausdrücklich hingewiesen zu haben. Vgl. Corn. Gurlitt: Die Gotik und
die Konfessionen, Gegenwart 1889, Nr. 38.
 
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