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I.DasHeiligtum nach Aufhören der Arbeiten amTempelbau

Der Verlauf der Freilegung und deren Ergebnisse für die Zerstörnngsgeschichte des
Tempels. Die spätantiken und mittelalterlichen Einbauten: Wehranlagen, kirchliche

Gebäude und Wohnstätten

Als die Grabungen am 29. April 1906 begannen, bot die
Ruine im wesentlichen noch jenen Anblick dar, wie er
aus älteren Aufnahmen und Darstellungen bekannt ist
(F 2 Tf. 15). Ein aus gewaltigen Marmorquadern auf-
getürmter, sich etwa 8 m bis 10 m über seiner Umgebung
erhebender Hiigel bildete den Kern derselben, nach
Westen schloß sich ein niedrigeres, ebenso zusammen-
gesetztes Trümmerfeld an, dessen innerer Teil durcli die
schluchtartige, von wilden Feigenbäumen iiberwucherte
Einsenkung desRayetschenVersuchsgrabens eingenommen
wurde (Rayet-Thomas Tf. 31), innerhalb dessen ein
schönes großes Pilasterkapitell freilag. Nördlich von dem
Triimmerhügel ragten die zwei durch ihr Gebälk ver-
bundenen jonischen Säulen auf, und südlich erhob sich
die einzelne unfertige, noch im Werkmantel stehende
Säule. Vor der Ostseite zog sich der breite bis zur antiken
Bodenfläche hinabreichende Einschnitt der Haussoullier-
sdien Grabung hin, durch den die Stufen und Säulen-
basen der Frontseite freigelegt waren, ein zweiter
ldeinerer französischer Graben führte von Norden gegen
die stehenden Säulen und ließ deren Basen zum Teil
sichtbar werden (Pontremoli-Haussoullier Tf. IV und
S. 49). Außerdem waren von den noch aufrecht stehenden
Teilen des Tempels nur die nordöstliche Antenwand, der
anschließende, von Rayet freigelegte und danach durch
Stein- und Bleiraub stark zerstörte Treppenraum, einige
Stücke der Cellawände sowie des südlichen Treppen-
baues und die nördliche Halbsäule der Ostwand des
Adytons nebst der Hintermauerung der südlichen Halb-
säule sichtbar. Auf der Höhe des Trümmerhügels erhob
sich eine Windmühle, und die Häuser des Dorfes über-
bauten die niedrigeren Teile der Ruine, in deren Um-
gebung sich das Terrain, namentlich im Osten, wo die
Verschüttung bis zu 5,60 m über dem antiken Boden be-
trug, stark clurch Schwemmboden und Schuttablagerung
aufgehöht hatte, wie sich besonders in den französischen
Gräben erkennen ließ. Die zu Tage liegenden Mauerteile
zeigten vielfach Sprenglöcher und sonstige Zerstörungen,
die bewiesen, wie eifrig und mit welch verderblicher
Wirkung hier das Brechen von Steinen für die Haus-
bauten des Dorfes und der Raub des Bleies der Ver-
diibelungen und Verklammerungen im Laufe der Ietzten
hundert Jalire betrieben worden war. Namentlich war
außer dem genannten nördlichen Treppenbau der west-
liche Teil des Nordstylobats nebst den anschließenden
Cellawänden bis in die Fundamente wie ein regelrechter
Steinbruch ausgebeutet worden. Schon die Neuanlage des
Dorfes Jeronda im Anfang des neunzehnten Jahr-
hunderts hatte der Tempelruine schwere Zerstörungen
gebracht, und gerade zur Zeit der 1812 unternommenen

zweiten Expedition der Dilettanti wurde nach deren Be- Zustand

richt ein Teil einer Antenwand eingerissen und der yor der Grabung

schlimmste Schaden durch die Erbauung der Windmühle

verursacht, die, was durch die Funde bestätigt wird, die Methode

der Freilegung

Veranlassung zur Zerstörung cler von jenen noch unver-
sehrt gesehenen korinthischen Halbsäulenkapitelle war

(F 2 Tf. 15; F 3, 5 Tf. 16; F 4 Tf. 18).

Die eigenartige Beschaffenheit dieser Trümmerstätte er-
forderte auch eine besondere Methode der Freilegung,
da es sich bei derselben nicht um eine Ausgrabung im
eigentlichen Sinne, sondern um ein Abräumen großer,
durch die Wirkung gewaltiger Erdbeben durcheinander-
geworfener Werkstücke handelte. Als erster Grundsatz
hatte zu gelten, daß von jeder Anwendung von Gewalt,

Zerschlagen oder Zerkleinern großerBlöcke durchPulver-
sprengungen, wie dies in gänzlich verwerflicher und un-
wissenschaftlicher Weise wohl bei früheren Ausgrabungen
vorgekommen ist, abgesehen werden mußte, und daß
jedes Werkstück, auch der einfache Wandblock, als unver-
letzlich zu betrachten war. Die Abräumung der Trümmer
setzte also das Vorhandensein ausreichender Lagerplätze
für die einzelnen Werkstücke und sodann die Anlage von
Transportrampen voraus, auf denen jene von der Höhe
des Trümmerhügels herab zu den Lagerplätzen ge-
schleppt werden konnten. Daher bestanden die bis zum
24. Dezember 1906 unter Kawerau und Wiegand und von
da ab unter meiner technischen Leitung durchgeführten
Arbeiten zunächst darin, daß nach dem Abbruch der an-
gekauften modernen Häuser das zur Verfügung stehende
Gebiet im Norden und im Osten des Tempels bis auf das
antike Niveau oder bis auf den gewachsenen Boden ab-
gegraben und der ausgehobene Schutt vermittels einer
Feldbahn auf hierfür außerhalb des Dorfes gepachtetem
Gelände abgelagert wurde, wodurch das bloßgelegte Ge-
biet, soweit dasselbe frei von antiken Resten war, als
Lagerplatz verfügbar wurde (Textabb. 1, 2). Während iin
Norden des Tempels der gewachsene, aus den meist
braunen Verwitterungsmassen des inorschen Kalkfelsens
besteliende und sich hier gänzlich frei von antiken Bau-
resten erweisende Untergrund in geringer Tiefe erreicht
wurde, traten in den tieferen Verschüttungen vor der
Ostseite nidit nur spätmittelalterliche oder jüngere
Hüttenmauern und von gestürzten Säulen der Tempel-
front überdeckte byzantinische Festungswerlce, sondern
auch eine antike Stützmauer undTreppenanlagen zuTage.

AIs Lagerplatz kam daher zunächst nur das Gebiet im
Norden des Tempels in Betracht, das für diesen Zweck
entsprechend eingeebnet und durch eine Trockenstütz-
mauer gegen die nördliche Dorfstraße abgegrenzt wurde.

Diese Stützmauer, zu deren Errichtung alle formlosen

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