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Deutsches Kunstblatt: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes — 2.1855

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https://doi.org/10.11588/diglit.1204#0017
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1855.

e

M 4.

Donnerstag, den 22. Februar.

Inhalt: Neue Dramen auf der Berliner Hofbühne. — Henriette Paalzow.

Neue Dramen auf der Berliner Dostühne.

Johannes Rathenow von R. Giseke. Der Fechter von

Ravenna. Ideal und Welt von R. Griepenkerl.

Die erstgenannten Stücke gehören der historischen Gattung an;
schon deshalb, und noch mehr, weil sie fast in allen Stücken ein-
ander völlig entgegengesetzt sind, eignen sie sich zu einer gemein-
schaftlichen Betrachtung; wir brauchen vom Standort der Dramaturgie
säst nur zuzuschauen, wie sich beide gegenseitig kritisiren.

Das Leben eines historischen Stückes soll ein Stück historischen
Lebens darstellen, aber die Wogen der Geschichte fließen von jedem
Punkte aus in Kreisen, nach allen Dimensionen, weiter und weiter.
Die erste künstlerische That ist demnach, aus diesen Kreisen einen
Ausschnitt, besser einen kleineren Kreis, zu wählen; doch nicht gleich-
mäßig fließen die Wellen der Geschichte, noch weniger die Quellen
ihrer Ueberlieferung, und wenn das Drama nach eigenen Gesetzen
Reichthum, Maaß und Ordnung und Abrundung der Elemente for-
dert, so wird ihm die Geschichte davon hier zu wenig, dort zu viel
darbieten, so wird zur Wahl des Stoffes bald Concentrirung, bald
freie Ergänzung des Gegebenen hinzukommen müssen, so daß dort
die Geschichte sich darstellt, als ob sie dramatisch geordnet, hier das
Drama, als ob es historisch geschehen wäre. — Während nun der
Rathenow aus einer an großen historischen, wie auch chronikalen That-
sachen reichen, obendrein durch einen Roman der Poesie nahegebrach-
ten Zeitpunkt neuerer Geschichte entnommen ist, gründet der Fechter
auf eine dürftige Notiz, welche einen ethisch bedeutsamen Stoff ent-
hält, der aber nur von des Dichters eigener Kraft und Kunst die
dramatische Ausprägung erhalten kann. Die kritische Betrachtung
hat nichts mit der Frage zu thun, welche Wahl von beiden wohl
die glücklichere sein mag; denn jedes höhere und eigentliche
Kunstwerk darf nicht nach den subjektiven Schwierigkeiten, unter
denen es hervorgebracht, sondern nur nach den objektiven Erfolgen,
die es hervorbringt, gemessen werden. Diese nun hingen dort von
der Concentration, hier von der Ergänzung der Geschichte ab; und
um zu erkennen, wie weit jedes gelungen, haben wir vor Allem zu
beachten, daß der ästhetische Leitfaden und Maßstab für beides, da-
mit ein genügender, aber auch maßvoller Reichthum der Handlung
erzielt werde, einzig und allein die dramatische Idee ist, welche jedes
Stück zu einem Ganzen und Einen macht. Deshalb ist die drama-
tisirte Geschichte noch kein geschichtliches Drama! (ein Gedanke, den
die meisten neueren Dichter nicht zu kennen, oder doch bei ihren
Arbeiten zu vergessen scheinen.) In der Geschichte werden oft un-
zählige Kräfte und Motive zusammentreffen, eine That zu vollbrin-
gen, aus Einer That wiederum unendliche Erfolge und Ziele aus-
gehen; im Drama müssen die Kräfte nicht bloß nach den Bedingungen
eines engen Raumes und der Zeit, sondern vor Allem der Einheit

Literatur-Blatt.

der Idee in den Brennpunkt zusammenfließen, in welchem sie allein
verzehrend und leuchtend herrscht.

Im Rathenow sammelt und treibt eine einige und ächt tragische
Idee die handelnden Kräfte und Charaktere; selbst alle äußerlichen
Umstände, welche wie durch Zufall Mitwirken, sind in der That und
Wahrheit durch jene bedingt. Es ist eine jener markigen Ideen,
welche eine tiefgreifende Umwandlung und Erhebung der menschlichen
Verhältnisse und Sinneöweisen bezwecken, tiefgewurzelte Anschauungen
und Einrichtungen entkräften sollen, und so die Markscheide großer
historischer Epochen ausmachen. Es ist hier die Idee der humanen,
auf allgemeine Wohlfahrt und Freiheit und nicht bloß Sicherheit
zielenden, also sittlich strebenden Gerechtigkeit, gegen das dokumen-
tirte und privilegirte, vorwiegend egoistischen Schranken dienende
Recht. Rathenow ist der Vertreter des Letzteren; er will Recht und
nur Recht, aber nur das verbriefte und versiegelte, das peinliche
Recht, dessen Symbol das steinerne Bild des Rolands ist; er geht
eben in und nach und mit diesem Rechte zu Grunde; sein Leben be-
schließt eine alte Zeit und eine neue beginnt mit den Schlußworten:

Zertrümmert liegt der Documente Recht;

Ein neues Recht erfordern unsere Zeiten,

Das nicht nur Recht, auch Segen soll verbreiten,

Und lebensvoll gedeihe fort und fort! —

Gott sei dafür! des Vaterlandes Hort!

In dieser wesentlichsten Beziehung also entspricht das Stück den
ethischen und ästhetischen Anforderungen an die Tragödie, nicht so
in der Ausführung. Der Streit, aus welchem der Kern der Hand-
lung sich entspinnt, ist nicht, wie man erwarten muß, ein Kampf
des alten gegen das neue Recht, auch nicht ein übermäßiges Be-
harren in jenem, sondern ganz im Gegentheil ein bloßer Streit in-
nerhalb des alten Rechts; eine Geldschuld sott getilgt werden, wenn
darüber ein Streit zwischen Rath und Bürgermeister (Rathenow)
entsteht, so liegt das außer dem Bereiche des dramatischen Conflikts;
für eine bloße Veranlassung zur Zwietracht nimnit er einen zu weiten
Raum ein. Das Mißbehagen, welches das Publikum und theilweise
auch die Kritik an den 47 Schock Groschen genommen hat, ist daher
ein gerechtes, nur daß man sich des wahren Grundes desselben nicht
bewußt worden ist; es liegt nicht in der Winzigkeit des Gegenstandes,
sondern in dessen Indifferenz für denjenigen Kanrpf, der hinterher
den Kern des Stückes ausmacht, so daß der Raum für diesen über-
mäßig beschränkt ist. Auch den Rechtssinn Rathenow's, als vollgül-
tigen Vertreters seines Princips, in's Licht zu stellen, ist dieses
Verhältniß um so weniger geeignet, als hinterher eine Schrift vor-
gezeigt wird, welche eine ausdrückliche Verschreibung des Raths über
jene Schuld ist, welche also nicht zu tilgen ein bloßes, ganz gemeines
Unrecht in jedem Sinne und zu jeder Zeit war. Ueberhaupt tritt
die positive Seite im Charakter des Helden und im Wesen seines
vorher berechtigten Princips nirgends deutlich genug hervor; der

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