Literatur
Platt
d e s
Deutschen Kunstblattes.
M 22.
Donnerstag, den 1. November.
Inhalt: Shakespeare auf der modernen englischen Bühne. Erster Brief. Heinrich VIII. im Prinzeß-Theater,
zehnten Jahrhunderts. Bon Dr. Job. Wilb. Schaefer. — Zeitung.
1855.
Geschichte der deutschen Literatur des acht-
Shakespeare auf der modernen englischen Aühne.
Erste r Brie f.
(Heinrich VIII. im Prinzeß - Theater.)
Es ist eine in Deutschland ziemlich allgemein verbreitete Ansicht,
daß Shakespeare von der englischen Bühne verschwunden sei. Dies
ist doch nur sehr annäherungsweise richtig. Er existirt oft da, wo
er am wenigsten vermuthet wird, und eine Londoner Zeitung theilte
dem erstaunten Publikum vor nicht allzulanger Zeit mit, daß in dem
östlichsten Theile der Stadt ein altes Penny-Theater zu finden sei,
wo seit Menschengedenken und ununterbrochen die Shakcspeare'schen
Stücke aufgeführt würden. Seitdem mir ein literarischer Freund
diese Mittheilung gemacht, steht mein ganzes Dichten und Trachten
dahin, dieses „vorstädtische Volkstheater" ausfindig zu machen, und
das Literaturblatt soll Kenntniß davon erhalten, wenn es mir glückt,
meinen lebhaften Wunsch erfüllt zu sehen. Der Besuch solcher Kunfi-
und Brandy-Tempel ist begreiflicherweise nicht ganz gefahrlos und
erfordert zunächst eine Garderobe, die fast noch schwerer zu beschaffen
ist als ein lull dress für die italienische Oper; aber ich hoffe zu-
letzt jede Schwierigkeit zu überwinden und schlimmstenfalls den Be-
weis zu liefern, daß Kunst und Wissenschaft noch immer ihres alten
Märtyrerthums fähig sind. Einige Engländer, die ich bis jetzt als
Führer oder doch als Begleiter zu engagiren suchte, haben mir in
artigster Weise einen Korb gegeben; der eine fand es nicht ,we-
sxeetadle" genug und der andre erklärte seine entschiedenste Abnei-
gung gegen bad smell.
Indem ich also die geneigten Leser auf diesen literarischen Lecker-
bissen vorläufig vertröste, schick' ich mich heute an, über jene minder
exclusiven Theater zu schreiben, auf denen Shakespeare keiu heim-
liches, unzugängliches Dasein führt, sondern, laut Komödienzettel, vor
aller Welt tagtäglich erklärt, daß er zu Haufe und für Jedermann
zu sprechen sei. Solcher Theater existiren Hierselbst drei. Diese
Zahl, so klein sie ist, drückt einen Fortschritt ans. Mit dem Rück-
tritt des gefeierten Macready, der ein Zeitgenoß unsres Devrient
und Seydelmann war, trat eine Epoche absoluter Shakespeare-
losigkeit ein, und aus dieser Zeit her scheint sich die Annahme zu
schreiben, daß Shakespeare nirgends weniger zu finden sei, als in
seiner Heimath. Aber dies Interregnum, oder wenn man will, dies
Rumpfparlament, in dem der Dichterkönig fehlte und die kleinen
Leute sich breit machten, war von noch kürzerer Dauer, als jene
historischen Zwischenzustände und ein Schauspieler aus der Schule
Macreadys, Mr. Phelps mit Namen, brachte das alte, bis dahin
untergeordnete „Saddlers-Wells-Theater" durch Kauf an sich und
schuf dasselbe zu einer Zufluchtstätte für den von der Bühne ver-
triebenen Beherrscher der Bretter und der Herzen um, und zwar
mit der ausgesprochenen Absicht, auf demselben die unterbrochenen
SitCTfltur - S!a2.
Shakespeare-Vorstellungen wieder aufzunehmen. Dieses Theater exi-
stirt und blüht noch bis diesen Augenblick, hat aber den Kreis seiner
dramatischen Aufführungen nach allen Seiten hin erweitert. Es
mußte das, da ihm inzwischen von zwei Seiten her eine Concurrenz
erwachsen ist. Diese beiden concurrirenden Bühnen sind das Princeß-
und das Soho-Theater *), das erstere im besten Theil von Oxford-
Street gelegen, das andre in einer benachbarten Querstraße, Dean-
Street.
„Saddlers Wells" ist mir noch unbekannt, und zwar um des-
halb, weil die Shakespeare-Aufführungen daselbst erst im Laufe des
Winterhalbjahrs beginnen werden. Die beiden andern Theater
aber kenn' ich bereits, und, eben noch vor Schluß der Sommer-
Saison in London eiutreffend, Hab' ich Gelegenheit gefunden, den
letzten Shakespeare-Vorstellungen auf beiden Bühnen beizuwohnen.
Es ergiebt sich hieraus, daß „Saddlers Wells" und das Princeß-^
Theater gleichsam halb Part machen und in den Shakespeare sich
theilen. Das eine hat ihn Winters, das andre zur Sommerzeit. —
Das Soho-Theater kommt wenig in Betracht.
Die Schlnßvorstellung im Princeß - Theater war die hundertste
Aufführung von „Heinrich VIII." Ich habe vor, heute ausschließ-
lich über diese zu schreiben, indem ich mir die Besprechung
„Richards III." im Soho-Theater, für einen zweiten Brief Vor-
behalte.
Das Princeß-Theater steht unter Leitung von Charles Kean.
Er ist nicht nur der Träger eines gefeierten Namens, sondern auch
der Erbe jener Gaben, die diesen Namen berühmt gemacht haben.
Vor drei Jahren schon sah ich ihn als König Johann in der gleich-
namigen Tragödie und konnte mir nicht verhehlen, daß er (nament-
lich in der Scene mit Hubert) alle diejenigen übertraf, die ich auf
dem Continent als Repräsentanten dieser Rolle gesehn habe. Sein
Cardinal Wolsey war so angethan, mich in der hohen Meinung von
seiner Künstlerschaft nur zu befestigen. Eh ich jedoch dazu übergehe,
die Aufführung im Allgemeinen und insonderheit das Kean'sche Ehe-
paar näher zu schildern, erlaube ich mir, meinem Briefe die theil-
weise Uebersetzung des aus drei großen Blättern bestehenden Komö-
dienzcttels einzufügen. Dieser Zettel, nur zum kleinern Theil ein
Personenverzeichniß, ist überwiegend ein Rechenschaftsbericht, den Mr.
Kean vor dem Publikum ablegt, und nach meinem Dafürhalten in
gleicher Weise interressant und lehrreich, wie er andrerseits ein Zeug-
niß von dem Ernst und dem Eifer giebt, mit dem die Aufführung
eines derartigen Stückes in Angriff genommen wird. Dieser Rechen-
schaftsbericht lautet im Auszuge, wie folgt:
„Dem noblen Stücke, das wir diesmal dem Publikum bieten,
auch die vollste Wirkung möglich zu machen, find wir bemüht ge-
wesen, alles in Erfahrung zu bringen, was geeignet sein mochte,
*) Zu deutsch etwa Juchhe- oder Halloh-Theater.
D. R.
Platt
d e s
Deutschen Kunstblattes.
M 22.
Donnerstag, den 1. November.
Inhalt: Shakespeare auf der modernen englischen Bühne. Erster Brief. Heinrich VIII. im Prinzeß-Theater,
zehnten Jahrhunderts. Bon Dr. Job. Wilb. Schaefer. — Zeitung.
1855.
Geschichte der deutschen Literatur des acht-
Shakespeare auf der modernen englischen Aühne.
Erste r Brie f.
(Heinrich VIII. im Prinzeß - Theater.)
Es ist eine in Deutschland ziemlich allgemein verbreitete Ansicht,
daß Shakespeare von der englischen Bühne verschwunden sei. Dies
ist doch nur sehr annäherungsweise richtig. Er existirt oft da, wo
er am wenigsten vermuthet wird, und eine Londoner Zeitung theilte
dem erstaunten Publikum vor nicht allzulanger Zeit mit, daß in dem
östlichsten Theile der Stadt ein altes Penny-Theater zu finden sei,
wo seit Menschengedenken und ununterbrochen die Shakcspeare'schen
Stücke aufgeführt würden. Seitdem mir ein literarischer Freund
diese Mittheilung gemacht, steht mein ganzes Dichten und Trachten
dahin, dieses „vorstädtische Volkstheater" ausfindig zu machen, und
das Literaturblatt soll Kenntniß davon erhalten, wenn es mir glückt,
meinen lebhaften Wunsch erfüllt zu sehen. Der Besuch solcher Kunfi-
und Brandy-Tempel ist begreiflicherweise nicht ganz gefahrlos und
erfordert zunächst eine Garderobe, die fast noch schwerer zu beschaffen
ist als ein lull dress für die italienische Oper; aber ich hoffe zu-
letzt jede Schwierigkeit zu überwinden und schlimmstenfalls den Be-
weis zu liefern, daß Kunst und Wissenschaft noch immer ihres alten
Märtyrerthums fähig sind. Einige Engländer, die ich bis jetzt als
Führer oder doch als Begleiter zu engagiren suchte, haben mir in
artigster Weise einen Korb gegeben; der eine fand es nicht ,we-
sxeetadle" genug und der andre erklärte seine entschiedenste Abnei-
gung gegen bad smell.
Indem ich also die geneigten Leser auf diesen literarischen Lecker-
bissen vorläufig vertröste, schick' ich mich heute an, über jene minder
exclusiven Theater zu schreiben, auf denen Shakespeare keiu heim-
liches, unzugängliches Dasein führt, sondern, laut Komödienzettel, vor
aller Welt tagtäglich erklärt, daß er zu Haufe und für Jedermann
zu sprechen sei. Solcher Theater existiren Hierselbst drei. Diese
Zahl, so klein sie ist, drückt einen Fortschritt ans. Mit dem Rück-
tritt des gefeierten Macready, der ein Zeitgenoß unsres Devrient
und Seydelmann war, trat eine Epoche absoluter Shakespeare-
losigkeit ein, und aus dieser Zeit her scheint sich die Annahme zu
schreiben, daß Shakespeare nirgends weniger zu finden sei, als in
seiner Heimath. Aber dies Interregnum, oder wenn man will, dies
Rumpfparlament, in dem der Dichterkönig fehlte und die kleinen
Leute sich breit machten, war von noch kürzerer Dauer, als jene
historischen Zwischenzustände und ein Schauspieler aus der Schule
Macreadys, Mr. Phelps mit Namen, brachte das alte, bis dahin
untergeordnete „Saddlers-Wells-Theater" durch Kauf an sich und
schuf dasselbe zu einer Zufluchtstätte für den von der Bühne ver-
triebenen Beherrscher der Bretter und der Herzen um, und zwar
mit der ausgesprochenen Absicht, auf demselben die unterbrochenen
SitCTfltur - S!a2.
Shakespeare-Vorstellungen wieder aufzunehmen. Dieses Theater exi-
stirt und blüht noch bis diesen Augenblick, hat aber den Kreis seiner
dramatischen Aufführungen nach allen Seiten hin erweitert. Es
mußte das, da ihm inzwischen von zwei Seiten her eine Concurrenz
erwachsen ist. Diese beiden concurrirenden Bühnen sind das Princeß-
und das Soho-Theater *), das erstere im besten Theil von Oxford-
Street gelegen, das andre in einer benachbarten Querstraße, Dean-
Street.
„Saddlers Wells" ist mir noch unbekannt, und zwar um des-
halb, weil die Shakespeare-Aufführungen daselbst erst im Laufe des
Winterhalbjahrs beginnen werden. Die beiden andern Theater
aber kenn' ich bereits, und, eben noch vor Schluß der Sommer-
Saison in London eiutreffend, Hab' ich Gelegenheit gefunden, den
letzten Shakespeare-Vorstellungen auf beiden Bühnen beizuwohnen.
Es ergiebt sich hieraus, daß „Saddlers Wells" und das Princeß-^
Theater gleichsam halb Part machen und in den Shakespeare sich
theilen. Das eine hat ihn Winters, das andre zur Sommerzeit. —
Das Soho-Theater kommt wenig in Betracht.
Die Schlnßvorstellung im Princeß - Theater war die hundertste
Aufführung von „Heinrich VIII." Ich habe vor, heute ausschließ-
lich über diese zu schreiben, indem ich mir die Besprechung
„Richards III." im Soho-Theater, für einen zweiten Brief Vor-
behalte.
Das Princeß-Theater steht unter Leitung von Charles Kean.
Er ist nicht nur der Träger eines gefeierten Namens, sondern auch
der Erbe jener Gaben, die diesen Namen berühmt gemacht haben.
Vor drei Jahren schon sah ich ihn als König Johann in der gleich-
namigen Tragödie und konnte mir nicht verhehlen, daß er (nament-
lich in der Scene mit Hubert) alle diejenigen übertraf, die ich auf
dem Continent als Repräsentanten dieser Rolle gesehn habe. Sein
Cardinal Wolsey war so angethan, mich in der hohen Meinung von
seiner Künstlerschaft nur zu befestigen. Eh ich jedoch dazu übergehe,
die Aufführung im Allgemeinen und insonderheit das Kean'sche Ehe-
paar näher zu schildern, erlaube ich mir, meinem Briefe die theil-
weise Uebersetzung des aus drei großen Blättern bestehenden Komö-
dienzcttels einzufügen. Dieser Zettel, nur zum kleinern Theil ein
Personenverzeichniß, ist überwiegend ein Rechenschaftsbericht, den Mr.
Kean vor dem Publikum ablegt, und nach meinem Dafürhalten in
gleicher Weise interressant und lehrreich, wie er andrerseits ein Zeug-
niß von dem Ernst und dem Eifer giebt, mit dem die Aufführung
eines derartigen Stückes in Angriff genommen wird. Dieser Rechen-
schaftsbericht lautet im Auszuge, wie folgt:
„Dem noblen Stücke, das wir diesmal dem Publikum bieten,
auch die vollste Wirkung möglich zu machen, find wir bemüht ge-
wesen, alles in Erfahrung zu bringen, was geeignet sein mochte,
*) Zu deutsch etwa Juchhe- oder Halloh-Theater.
D. R.