Deutschen Kunstblattes.
M. a:i.
Donnerstag, den 13. November.
1855.
Inhalt: Shakespeare aus der modernen englischen Bühne. Zweiter Brief. (Richard III. im Soho-Theater.) — Pariser Stereoskopen. Von E. Kossak.
Israel und die Völker. Ein christlicher Dithyrambus von F. E. Kirchhofs. — Die Schillerstistung.
Shakespeare aus der modernen englischen Aühne.
Zweiter Brief.
(Richard !!!. im Soho-Theater.)
Auch das Soho-Theater (Dean-Street) bricht eine Lanze für
Shakespeare. Ob dieser, wenn er im xit oder stall einer Vorstel-
lung seiner selbst beiwohnen könnte, mit dieser Art von Verfechtung
einverstanden sein würde, muß dahingestellt bleiben. Die Kean'sche
Bühne (Prinzeß-Theater) und das Soho-Theater sind Nachbarn;
aber sie haben wenig Anderes mit einander gemein, als die Zuge-
hörigkeit zu einem und demselben Stadttheil (Mary le Bone) und
die gleichen Ansprüche auf ihren großen Dichter und Landsmann.
Im Uebrigen verhalten sich ihre Leistungen zu einander, wie ihre
Häuser oder ihre Garderoben, oder selbst wie ihre Namen: „Prin-
zeß" und „Soho".
Dean-Street ist eine Querstraße von Oxford-Street und gehört
dem ehemaligen Quartier latin, dem Studenten- und Künstler-Viertel
von London an. Ob alle diese Straßen, deren Mittelpunkt der
Soho-Square ist, noch jetzt Anspruch auf diesen auszeichneuden
Namen haben, möcht' ich bezweifeln; wenigstens wies das Publikum
keinen einzigen Kopf aus, den ich als das wahrscheinliche Besitzthum
eines Malers hätte bezeichnen können. Nur an Modellen war kein
Mangel. Aber eben die Uutergeordnetheit, respektive die „Zweifel-
haftigkeit" des Publikums gab dieser Aufführung (Richard III.) einen
besonderen Reiz, und wenn es mir verwehrt sein sollte, den heiß-
ersehnten Shakespeare-Vorstellungen eines von Theerjacken besuchten
Penny-Theaters (worüber ich schon in meinem ersten Briefe schrieb)
beiwohnen zu können, so Hab' ich doch in Dean-Street eine Art
Uebergangsstuse kennen gelernt. Vielleicht ist dieser Theil der Ge-
sellschaft für jeden Fremden der interessanteste und lehrreichste. Der
Adel gleicht sich überall; dasselbe gilt vom Pöbel; nur in der mitt-
leren Schicht der Gesellschaft und zwar da, wo eine starke Neigung
nach unten ansängt bemerklich zu werden, treten die Unterschiede der
Nationalität in aller Frische und Lebendigkeit zu Tage.
Es mochte 7 Uhr sein, als ich im Ersten Rang, zu einem
äußerst civilen Preise, meinen Platz einnahm. Mir blieb noch eine
volle halbe Stunde, um Haus und Zuhörerschaft zu mustern. Die
Damentoiletten um mich her bestanden, von Kops zu Fuß, aus dem
hier unvermeidlichen schwarzen Kamelot und machten mich lachen
darüber, daß wenige Minuten zuvor die Aufschrift „dress-boxes“
(Logen, in denen man im Staatskleid erscheinen umß) ein lebhaftes
Bedenken hinsichtlich meiner eigenen Garderobe in mir angeregt hatte.
Die Damenhände lagen in ihrer natürlichen Hülle, zum Theil mit
etwas dunklem Farbenton, auf dem Rand des Balkons und der Be-
sitzer oder Käufer eines Komödienzettels war der unbedingte Gegen-
stand der Aufmerksamkeit. Im Orchester war alles leer; die Be-
Liteiaiu:- Bla".
leuchtung deutete fälschlicherweise darauf hin, daß die erste Scene
nach Untergang der Sonne spielen werde. Wenige Minuten vor
halb acht füllte sich indeß das drittehalb Fuß breite oder richtiger
tiefe Orchester. In der Mitte desselben nahm ein Klavierspieler Platz
und unter Begleitung von einem Baß, einem Cello und einer Geige
zur Rechten und von Pauke, Trompete und türkischer Trommel zur
Linken, begann der Abend mit der Ouvertüre aus Tankred.
Laß ich jetzt den Scherz, zu dem diese Aeußerlichkeiten unwider-
stehlich anregten, und versuch' ich es vielmehr, Ihnen eine Art Sce-
narium zu geben, aus dem Sie einmal den Unterschied zwischen einer
continentalen und einer Londoner Vorstellung Richards III., dann
aber überhaupt ersehen mögen, wie ungenirt man hier den Shake-
speare zuzuschneiden versteht. Ich werde weiterhin Gelegenheit fin-
den, hervorzuheben, in wie weit diese Art des Verfahrens gut zu
heißen oder doch zu toleriren ist.
Ouvertüre aus Tankred.
Erster Akt.
- Scene I. Im Tower. Ein Zwiegespräch zwischen Lord Stan-
ley und Sir Richard Ratcliffe giebt in wenig Worten die Situa-
tion. Der gefangene Heinrich VI. tritt hinzu; ihm folgt alsbald
Graf Oxford und berichtet über den unglücklichen Ausgang der
Schlacht bei Tewksbury, endlich auch über die schnöde Ermordung
des Prinzen von Wales durch die drei Jorks: König Eduard, Cla-
rence und Gloster. (Die ganze Scene ist ein Machwerk der Soho-
Theater - Direktion.)
Scene II. Gloster's berühmter Monolog:
Now is the wipter of our discoutent
Made glorious summer by tliis sun of York etc.
Scene III. Im Tower. Gloster ermordet Heinrich VI. (Diese
Scene ist dem dritten Theil von Shakespeare's Heinrich VI. —
fünfter Akt, vorletzte Scene — entlehnt und hier eingelegt.)
Im Zwischenakt: Rattenfänger-Polka.*)
Zweiter Akt.
Scene I. Gloster und Anna am Sarkophage Heinrich's VI.
(Die Scene mit der alten Königin Margarethe, ferner die Ermor-
dung des Clarence im Tower und die Sterbescene König Eduards
fallen fort.)
Scene II. Dem Gloster wird gemeldet, daß König Eduard
todt sei.
Scene III. Klage Elisabeths und der alten Herzogin von Jork
über den Tod des Königs.
Scene IV. Gloster und Buckingham beschließen, sich der Söhne
Eduards zu versichern.
*) Auf dem Theaterzettel sind die Tänze, die die Zwischenakte ausfüllen,
sämmtlich namhaft gemacht.
23
M. a:i.
Donnerstag, den 13. November.
1855.
Inhalt: Shakespeare aus der modernen englischen Bühne. Zweiter Brief. (Richard III. im Soho-Theater.) — Pariser Stereoskopen. Von E. Kossak.
Israel und die Völker. Ein christlicher Dithyrambus von F. E. Kirchhofs. — Die Schillerstistung.
Shakespeare aus der modernen englischen Aühne.
Zweiter Brief.
(Richard !!!. im Soho-Theater.)
Auch das Soho-Theater (Dean-Street) bricht eine Lanze für
Shakespeare. Ob dieser, wenn er im xit oder stall einer Vorstel-
lung seiner selbst beiwohnen könnte, mit dieser Art von Verfechtung
einverstanden sein würde, muß dahingestellt bleiben. Die Kean'sche
Bühne (Prinzeß-Theater) und das Soho-Theater sind Nachbarn;
aber sie haben wenig Anderes mit einander gemein, als die Zuge-
hörigkeit zu einem und demselben Stadttheil (Mary le Bone) und
die gleichen Ansprüche auf ihren großen Dichter und Landsmann.
Im Uebrigen verhalten sich ihre Leistungen zu einander, wie ihre
Häuser oder ihre Garderoben, oder selbst wie ihre Namen: „Prin-
zeß" und „Soho".
Dean-Street ist eine Querstraße von Oxford-Street und gehört
dem ehemaligen Quartier latin, dem Studenten- und Künstler-Viertel
von London an. Ob alle diese Straßen, deren Mittelpunkt der
Soho-Square ist, noch jetzt Anspruch auf diesen auszeichneuden
Namen haben, möcht' ich bezweifeln; wenigstens wies das Publikum
keinen einzigen Kopf aus, den ich als das wahrscheinliche Besitzthum
eines Malers hätte bezeichnen können. Nur an Modellen war kein
Mangel. Aber eben die Uutergeordnetheit, respektive die „Zweifel-
haftigkeit" des Publikums gab dieser Aufführung (Richard III.) einen
besonderen Reiz, und wenn es mir verwehrt sein sollte, den heiß-
ersehnten Shakespeare-Vorstellungen eines von Theerjacken besuchten
Penny-Theaters (worüber ich schon in meinem ersten Briefe schrieb)
beiwohnen zu können, so Hab' ich doch in Dean-Street eine Art
Uebergangsstuse kennen gelernt. Vielleicht ist dieser Theil der Ge-
sellschaft für jeden Fremden der interessanteste und lehrreichste. Der
Adel gleicht sich überall; dasselbe gilt vom Pöbel; nur in der mitt-
leren Schicht der Gesellschaft und zwar da, wo eine starke Neigung
nach unten ansängt bemerklich zu werden, treten die Unterschiede der
Nationalität in aller Frische und Lebendigkeit zu Tage.
Es mochte 7 Uhr sein, als ich im Ersten Rang, zu einem
äußerst civilen Preise, meinen Platz einnahm. Mir blieb noch eine
volle halbe Stunde, um Haus und Zuhörerschaft zu mustern. Die
Damentoiletten um mich her bestanden, von Kops zu Fuß, aus dem
hier unvermeidlichen schwarzen Kamelot und machten mich lachen
darüber, daß wenige Minuten zuvor die Aufschrift „dress-boxes“
(Logen, in denen man im Staatskleid erscheinen umß) ein lebhaftes
Bedenken hinsichtlich meiner eigenen Garderobe in mir angeregt hatte.
Die Damenhände lagen in ihrer natürlichen Hülle, zum Theil mit
etwas dunklem Farbenton, auf dem Rand des Balkons und der Be-
sitzer oder Käufer eines Komödienzettels war der unbedingte Gegen-
stand der Aufmerksamkeit. Im Orchester war alles leer; die Be-
Liteiaiu:- Bla".
leuchtung deutete fälschlicherweise darauf hin, daß die erste Scene
nach Untergang der Sonne spielen werde. Wenige Minuten vor
halb acht füllte sich indeß das drittehalb Fuß breite oder richtiger
tiefe Orchester. In der Mitte desselben nahm ein Klavierspieler Platz
und unter Begleitung von einem Baß, einem Cello und einer Geige
zur Rechten und von Pauke, Trompete und türkischer Trommel zur
Linken, begann der Abend mit der Ouvertüre aus Tankred.
Laß ich jetzt den Scherz, zu dem diese Aeußerlichkeiten unwider-
stehlich anregten, und versuch' ich es vielmehr, Ihnen eine Art Sce-
narium zu geben, aus dem Sie einmal den Unterschied zwischen einer
continentalen und einer Londoner Vorstellung Richards III., dann
aber überhaupt ersehen mögen, wie ungenirt man hier den Shake-
speare zuzuschneiden versteht. Ich werde weiterhin Gelegenheit fin-
den, hervorzuheben, in wie weit diese Art des Verfahrens gut zu
heißen oder doch zu toleriren ist.
Ouvertüre aus Tankred.
Erster Akt.
- Scene I. Im Tower. Ein Zwiegespräch zwischen Lord Stan-
ley und Sir Richard Ratcliffe giebt in wenig Worten die Situa-
tion. Der gefangene Heinrich VI. tritt hinzu; ihm folgt alsbald
Graf Oxford und berichtet über den unglücklichen Ausgang der
Schlacht bei Tewksbury, endlich auch über die schnöde Ermordung
des Prinzen von Wales durch die drei Jorks: König Eduard, Cla-
rence und Gloster. (Die ganze Scene ist ein Machwerk der Soho-
Theater - Direktion.)
Scene II. Gloster's berühmter Monolog:
Now is the wipter of our discoutent
Made glorious summer by tliis sun of York etc.
Scene III. Im Tower. Gloster ermordet Heinrich VI. (Diese
Scene ist dem dritten Theil von Shakespeare's Heinrich VI. —
fünfter Akt, vorletzte Scene — entlehnt und hier eingelegt.)
Im Zwischenakt: Rattenfänger-Polka.*)
Zweiter Akt.
Scene I. Gloster und Anna am Sarkophage Heinrich's VI.
(Die Scene mit der alten Königin Margarethe, ferner die Ermor-
dung des Clarence im Tower und die Sterbescene König Eduards
fallen fort.)
Scene II. Dem Gloster wird gemeldet, daß König Eduard
todt sei.
Scene III. Klage Elisabeths und der alten Herzogin von Jork
über den Tod des Königs.
Scene IV. Gloster und Buckingham beschließen, sich der Söhne
Eduards zu versichern.
*) Auf dem Theaterzettel sind die Tänze, die die Zwischenakte ausfüllen,
sämmtlich namhaft gemacht.
23