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Deutsches Kunstblatt: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes — 2.1855

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https://doi.org/10.11588/diglit.1204#0106
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Römer und Franzosen aber werden von unseren klassischen Kritikern
deshalb mit Recht getadelt, daß sie viele Dichtungen geschaffen ha-
ben, welche in der eigenen und fremden Nation spielen, ohne aus
der zugehörigen Nationalität heraus entwickelt zu sein. Auf den
Unterschied der nationalen Poesie und ihres Gegentheils, (der seit!
den Römern in fast allen modernen Völkern von hervorragender;
Cultur auftritt, und zu den interessantesten und wichtigsten Unter- j
suchungen der Philosophie der Litteraturgeschichte gehört), so wie!
.auf den der eigenen und einheimischen und der nationalen über-
haupt näher einzugehen ist hier der Ort nicht; wir kehren zu der
uns vorliegenden Dichtung zurück, welche wir als eine nationale
bezeichnet haben, sowohl in Bezug auf den Stoff als die Form.
Die Zeit, in welcher die Handlung des Gedichtes spielt, ist die der
schmalkaldischen Kriege, kurz nach dem Tode Luthers. In dem Zeit-
alter der Reformation sehen wir den deutschen Nationalgeist mit
aller seiner Schöpsungs- und Strebekraft in größerer Reinheit als
in irgend einer anderen Epoche, befreit von aller fränkischen und
italischen Gemeinschaft des Mittelalters, noch nicht vermischt mit
dem classischen Humanismus der folgenden Jahrhunderte; wenig-
stens auf den Kreis, in welchem die Dichtung sich bewegt, Hans
Sachs und seine Genossen in Nürnberg, hatten die griechischen Stu-
dien noch keinen Einfluß. Die geistige Errungenschaft mußte aber
durch einen leiblichen Kampf geschützt werden; und innerlich und
äußerlich in diesen Kampf verwickelt und thätig daran theilnehmend
finden wir den Helden unserer Dichtung. Wie im Großen und
Ganzen, so auch in jedem einzelnen Moment der Erzählung erkennen
wir ächt deutsches Leben und Treiben, deutsche Sitte und Art in
jedem Zuge, in Denken und Fühlen und Handeln. Die Nürnberger
Herren mit ihrem Meister Sachs an der Spitze, die Fürsten mit
ihren Reitern und Landsknechten, die Töchterlein des Rathsherrn
und die Frau Meisterin, die politischen Kannegießer in der Wirths-
stube, die fahrenden Gaukler und Tragödienkomödianten und der viel-
gewandte und vielgewanderte Gurgelfritze — sie tragen alle das
deutliche, entschiedene, deutsche Gepräge und obendrein in schärfster
individueller Verschiedenheit charakterisirt.

Der Stoff des Gedichtes ist durchaus einfach: die Entwickelung
eines von der Natur reich begabten, in der bürgerlichen Gesellschaft
niedrig gestellten Menschen aus der Gährung der Gefühle in den j
Jünglingsjahren zur gedeihlichen und an Thaten fruchtbaren Reife
des Mannes; und wessen er im Anfang, obwohl der Sohn eines
Tischlers, durch den Sinn und Trieb für das Edle würdig zu sein
vermeinte, das erhält er als Preis für edle mannhafte Gesinnung
als Vertheidiger der Vaterstadt, das feine, liebsame Töchterlein des
vornehmen Rathsherrn. Einfach wie der Stoff, so klar ist auch seine
Entfaltung und Ausbreitung im Gedicht; es ist ein idyllisches Epos,
eine Erzählung, deren centrales Interesse in dem idyllischen, d. h
jsolirten Glück eines kleinen Kreises von Menschen besteht, deren
Innerstes aber nur als eine Ader erscheint, welche aus dem Herzen
des öffentlichen Volkslebens ihren Lebenssaft empfängt und ihre
Lebenskraft dorthin auch wieder zurückleitet. Die Dichtung gehört
also zu derjenigen Art der epischen Gattung, für welche wir in Herr-
mann und Dorothea das mustergültige Prototyp besitzen. W. v. Hum-
boldt sagt von diesem: „Auf welchen Standpunkt sieht sich der Leser
dadurch versetzt! Das Leben in seinen größestcn und wichtigsten Ver-
hältnissen und der Mensch in allen bedeutenden Momenten seines
Daseins stehen auf einmal vor ihm da, und er durchschaut sie mit
lebendiger Wahrheit. Was seinem Herzen das Wichtigste ist, sein
Nachdenken und seine Beobachtung am anhaltendsten beschäftigt, sieht
^r mit wenigen, aber meisterhaften Zügen in überraschender Wahr-
heit geschildert — den Wechsel der Alter und Zeiten, die fortschrei-
tende Umänderung der Sitten und Denkungsart, die Hauptstufen

menschlicher Cultur, und vor allem das Verhältniß häuslicher Bür-
gertugend und stillen. Familienglücks zu dem Schicksal von Nationen
und dem Strome außerordentlicher Ereignisse. Indem er nur den
Begebenheiten einer einzelnen Familie zuzuhören glaubt, fühlt er
seinen Geist in ernste und allgemeine Betrachtungen versenkt, sein
Herz zu wehmutsvoller Rührung hingerissen, sein ganzes Gemüth
hingegen zuletzt wieder durch einfache, aber gediegene Weisheit be-
ruhigt. Denn die wichtige Frage, die sich überall jedem ausdrängen
muß: wie soll bei dem allgemeinen Wechsel, in welchem Meinungen,
Sitten, Verfassungen und Nationen fortgerissen werden, der Einzelne

sich verhalten? findet er-beantwortet": und alles dies würde

in gleicher Weise und in gleichem Maße von der vorliegenden Dich-
tung gelten können, wenn der Dichter in der Bearbeitung des Stoffes
eben so gründlich gewesen wäre, wie er in der Wahl desselben glück-
lich gewesen ist. Der eben bezeichnet Reichthum von menschlichen
Beziehungen, also poetischen Elementen, mit welchem Göthe kunstvoll
seinen engen Stoff belebt hat, war Roquette in dem seinigen ge-
geben. Der wesentlichste Unterschied beider Dichtungen in Bezug auf
den Inhalt besteht darin, daß in Herrmann und Dorothea die ganze
Handlung, welche vor unseren Augen spielt, rein idyllischer Natur
ist, die Anknüpfung an weitere und größere Kreise des historischen
Lebens nur theils durch Erinnerung, theils durch reflectirendes Ge-
spräch stattfindet; im Haidekuckuck aber entwickelt sich handelnd ein
gut Stück Geschichte und zwar, wie gesagt, aus einer der bedeutend-
sten Culturepochen; daher aber findet gleichsam das umgekehrte Ver-
hältniß von Fundament und Gebäude in beiden Gedichten statt. In
Herrmann und Dorothea ist auf einem beschränkten Fundament ein
herrlicher, reicher und solider, styl- und prachtvoller Bau errichtet;
im Haidekuckuck auf einem weiten und breiten Unterbau ein zwar
anmuthiges, mit vielen Reizen und Schönheiten verziertes, aber
immer doch nur leichtes, man kann sagen, flüchtiges Gebäude. Her-
mann ist nur im ästhetischen Sinne, aber nichts weniger als im
eigentlichen Sinne — ein Held; Hans aber ist, wiewohl von ganzem
Charakter ebenfalls eine schlichte bürgerliche, dennoch durch seine
That eine heldenmäßige Gestalt. Daher wirkt auch hier vorwiegend
der an sich poetische und theilweis heroische Inhalt der Dichtung,
dort vorzüglich die Form und die Darstellung. Dagegen tritt der
reine didaktische Ideengehalt bei Göthe reich, mannigfaltig und offen
in sentenziöser Form hervor; bei Roquette ist er seltener und liegt
vorwiegend eingeschlossen in den Thatsachen. Diese regen wohl den
Leser zu den mannigfachsten Gedanken an, aber der Dichter selbst
hätte dazu angeregt und zur Entfaltung derselben bewogen und be-
geistert werden sollen.

Von der gewaltigen geistigen Tiefe der Reformationszeit, von
ihrer glaubenerhebenden, sittenumwandelnden Kraft läßt uns der
Dichter viel mehr ahnen als schauen; er hat diese Saiten wohl an-
geschlagen, aber nur leichie Töne erklingen und schnell wieder ver-
hallen lassen; die Rede Hans Sachsens (im 1. Gesang) trägt zu sehr
das Gepräge eines bloßen Liberalismus und offenbart uns weder
die Eigenthümlichkeit noch die Tiefe der geistigen Bewegung der Re-
formation.

Je freudiger wir die Dichtung begrüßen, je inniger und herz-
licher wir ihre Schönheit in dem Obigen und im Folgenden aner-
kennen, desto verpflichteter fühlen wir uns, dem Dichter mit allem
Nachdruck und Ernst zu rathen, daß er nicht bloß mit seinem Talent
und Geschick, sondern auch mit Fleiß und Arbeit an seine Schöpfungen
gehen möchte. In der That, wir konnten wohl für die hohe Achtung,
welche wir vor seinem Werke haben, keinen gewichtigeren Ausdruck
wählen, als daß wir es mit Herrmann und Dorothea vergleichen;
möge der Dichter darin eine wohlverdiente Genugthuung finden, aber
auch dadurch die Wahrheit unserer Behauptung erkennen: wie sehr
 
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