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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 40.1917

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Zimmermann, Ernst: Verschiedenart künstlerischen Empfindens
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https://doi.org/10.11588/diglit.8539#0105

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Verschiedenart künstlerischen Empfindens.

die Frau, wie jener sein Arbeitszimmer aus-
füllt, diese ihr Boudoir. Dort, falls normale
Verhältnisse vorliegen, alles ernst und kräftig,
hier alles weich und zart, dort allem Spie-
lerischen abgewandt, hier diesem meist nur
zu sehr geneigt. Es ist alles gar nicht anders
denkbar, es würde, wenn es anders wäre,
für uns alles aus aller Harmonie geraten. Es
würden sich natürliche Gesetze zu lösen schei-
nen. Kann aber dieser Gegensatz der selbst-
gewählten künstlerischen Umgebung sich auch
der übrigenKunst gegen-
über j emals verleugnen ?
Kann hier das Weib emp-
finden wie der Mann?
Auch hier wird das, was
zartem, weicheremEmp-
finden entgegenkommt,
dem Weib sich leichter
offenbaren, dem Manne
das, was Kraft und Ernst
enthüllt. Ein Rafael
wird Damenfreund sein,
ein Michelangelo Ge-
nosse des Mannes und
alle die vielen Über-
gänge, die sich zwischen
diesen beiden finden,
werden in gleich ver-
schiedener Weise auf
beide Geschlechter wir-
ken. Es wird Überein-
stimmung hier nie zu er-
zielen sein. Denn nie-
mand kann ganz aus sei-
ner Haut. — Dann käme
weiter der Unterschied
der Gemütsveranlagun-
gen in Betracht, jener
Unterschied, den einst
schon die Alten erkann-
ten, als sie zuerst die
verwirrende Menge der
Menschen einteilen woll-
ten und zu den vier
Elementen gelangten.
Auch für uns hat diese
Einteilung wohl ihre
Geltung. Auch wir reden

täglich noch von Phlegmatikern und Choleri-
kern, setzen dem Sanguiniker den Melancho-
liker gegenüber, sehen diese sich täglich als
solche betätigen. Und auch diesen natürlichen,
ganz unabänderlichen Veranlagungen der Men-
schen muß sich die Kunst verschieden offen-
baren, mag hier auch Selbsterkenntnis, verbun-
den mit eigenem Bezwingen manchen Ausgleich

E. M. ENGERT. GESCHNITTENE SILHOUETTE »SALOME«

zuwege bringen. Ganz wird er jedoch nie zu-
stande kommen. So wird auch nie, was der
Gemütsanlage nicht entspricht, dem künstleri-
schem Empfinden völlig eingehen. Es wird nie
der Melancholiker dem Heiteren in der Kunst
in gleicher Weise gegenüberstehen, wie der
Sanguiniker, ihm nie die gleiche ästhetische
Vorurteilslosigkeit, das gleiche Interesse ent-
gegenbringen. Und diese Verschiedenartigkeit
der Gemütsanlage wird dann auch sein Urteil
bestimmen, zum mindesten stark beeinflussen.

Er hat vielfach gar nicht
so recht gesehen, was
jener sah und kann es
darum auch nicht emp-
finden. So fehlt auch
hier die Voraussetzung
zur Ruhe des Urteils.
Denn der Mensch kann
niemals ganz seine Na-
tur verleugnen. — Und
dann kommt jene reiche
Trennung derMenschen,
die einst die Renais-
sance begonnen, dann
die französische Revolu-
tion vollendet hat, die-
jenige, auf die wir heute
so ganz besonders stolz
sind und die immer wei-
ter durchzuführen wir
uns heute so eifrig be-
mühen : die Trennung
nach Individualitäten.
Die Individualität des
Menschen setzt sich zu-
sammen, zunächst aus
jenen Gegensätzen, die
bereits besprochen, aus
Geschlecht undGemüts-
art, dann aus Veranla-
gung und Erziehung, Um-
gebung und Schicksal.
Sie kann nur entstehen,
wo der Mensch frei von
aller äußeren Bevor-
mundung sich frei zu
entwickeln vermag und
ist darum auch erst in
unserer Zeit entstanden, da eine derartige Be-
vormundung in ihr für gewöhnlich fehlt. Da
aber jene die Individualität bestimmenden Fak-
toren und ihr Verhältnis zu einander unendlich
verschiedenartig sein können, so muß auch die
Individualität es gleichfalls sein. Unendlich man-
nigfaltig ist daher die Fülle ihrer Spielarten. Und
dieser Reichtum macht auch den Reichtum un-
 
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