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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 40.1917

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Heckel, Karl: Schöpferische Kritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.8539#0232

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Schöpferische Kritik.

PROFESSOR GUSTAV SCHÖNLEBER t

ÖLSTIFT-ZEICHNÜNG »ERSTES GRÜN« 1903.
BESITZER: STÄDTISCHE KUNSTHALLE—DÜSSELDORF.

Produktiv im Sinne organischer Gestaltung
ist die Natur. Und außer ihr nur die Kunst.
Niemals aber der kritische Verstand. Ein Kunst-
werk ist eine Schöpfung, von dem Niemand vor
seinem Entstandensein eine Vorstellung hat.
Seiner Erzeugung, ohne Fühlung mit dem Künst-
ler, Ziel und Weg vorschreiben zu wollen, wäre
die gleiche Anmaßung, als wenn wir der orga-
nisch schaffenden Natur willkürlich ein Thema
stellen wollten. Wer für Natur und Kunst die
gebührende Achtung empfindet, bedarf hierzu
keiner Erläuterung.

Trotzdem gibt es eine Funktion der Kritik,
die wir als schöpferisch bezeichnen dürfen. Nur
daß sie niemals Prolog, sondern nur Epilog sein
kann. Sie tritt dann ein, wenn die Kritik von
der Analyse zur Synthese übergeht. Zuweilen
vermag sie hierbei ihre Aufgabe durch ein ein-
ziges Wort zu erfüllen. Ich wähle einige belie-
bige Beispiele. Chamberlain hat von Goethe
geschrieben, er sei kein Naturforscher, sondern
ein Natur-erforscher gewesen. Er hat damit
den großen Anteil künstlerischer, aus der An-
schauung geborenen Schaffenstätigkeit bei Goe-
thes wissenschaftlichen Bestrebungen gekenn-
zeichnet. Ich habe dieses Urteil wie eine Er-
leuchtung empfunden, die produktiv zu einem
wertvollen Gedankenbild führt. Oder ein
anderes Beispiel. Georg Brandes hat von
Nietzsche's Philosophie, zu einer Zeit, da sie
fast nirgends einem Verständnis begegnete,
gesagt, das sei „aristokratischer Radikalismus"
und damit die Synthese gefunden für scheinbare
Widersprüche in der Lehre des Philosophen,

der bald die Kunst gegenüber der Wissenschaft
und bald die Wissenschaft gegenüber der Kunst
auf den Thron erhob. Nietzsche selbst hat das
Urteil über die Griechen gewandelt durch seine
kritischen Ausführungen, die in der Gegenüber-
stellung von dionysisch und apollinisch gipfelten,
und Jakob Burckhardt hat, wohl von Nietzsche
beeinflußt, die künstlerische Lebensanschauung
der Griechen ungemein treffend charakterisiert,
indem er vom „Pessimismus der Erkenntnis
und dem Optimismus des Temperaments"
sprach. Schiller endlich hat sich Goethe gegen-
über als schöpferischer Kritiker in einem Wort
von wertvollster Bedeutung bewährt. Man weiß
mit welchem Eifer Goethe nach der „Urpflanze"
forschte, ja wie er sie im Walde zu finden hoffte,
bis Schiller ihn belehrte, daß es sich dabei nicht
um eine Angelegenheit der Erfahrung, sondern
um eine Idee handle. Dieses eine kritische
Wort krönte gleichsam alle vorausgegangenen
Betrachtungen Goethe's, vollendete gewisser-
maßen seinen Gedankengang und hat, nach sei-
ner eigenen Aussprache, ihn ungemein gefördert.
Wer in der Kritik der bildenden Künste bewan-
dert ist, hat es leicht, sich zahlreicher Beispiele
zu erinnern, in denen es dem Kritiker gelang,
für das Gesamtwerk eines einzelnen Künstlers,
oder einer zusammengehörigen Gruppe durch
sein Urteil das Übereinstimmende hervorzuhe-
ben, das den Künstler, ihm selbst unbewußt, bei
seinem Schaffen leitete. Womit ich den Schlag-
wörtern, sobald sie nicht mehr als schöpferische
Kritik, sondern als bequeme Münze gehandhabt
werden, durchaus nicht das Wort reden will.
 
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