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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 53.1923-1924

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Heckel, Karl: Schöpferische Gestaltung und Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.9146#0042

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Schöpferische Gestaltung und Aesthetik.

DIREKT
AUS STEIN
GEHAUEN.
KAROL
DULDIG.

Freienfels schreibt: „Der moderne Mensch
redet klug über ästhetische Normen, aber er
hat jenen ästhetischen Instinkt verloren, der uns
oft bei Primitiven in Erstaunen setzt..." Und
er verkündet: „Wir werden ungerecht vor zu
viel rationaler Gerechtigkeit. Wir verlieren den
Schönheitssinn vor zu viel ästhetischer Bil-
dung, wir werden kurzsichtig und gehen in die
Irre vor lauter Scharfsinn und Klugheit."

Ehemals fühlte sich der Gelehrte berufen,
dem Künstler die Wege vorzuschreiben, die
Ästhetik der Kunst das Heil zuweisen. So viel
der Schaffende ihr an Fingerzeigen, an Auf-
klärungen und an neuen Perspektiven verdan-
ken mochte: immer hat er sich einen passiven
Widerstand bewahrt gegen ihre Tyrannei. Und
das war gut so. Denn seit Goethe, Schopen-
hauer und Nietzsche ist die Zeit gekommen für
eine Umkehrung. Der Gelehrte lernt nunmehr
vom Künstler. Julius Schultz, Leopold Ziegler,
Müller-Freienfels u. a. haben im Gegensatz zu
den Rationalisten diese Wege bewußt betreten.
Und nicht nur für die Philosophie, sondern so-
gar für die Staatswissenschaft liegt die Möglich-
keit zur Errettung aus der größten aller Ge-
fahren — der Mechanisierung des Lebens —
in der künstlerischen Anschauungsweise. Ist
die Maschine das rationalste Gebilde, das wir
kennen, so ist das organische Kunstwerk das

irrationalste. Dort Erstarrung im Zweck, hier
Belebung durch das freie Spiel der Kräfte.

Kosmopolitismus, Pazifismus usw. sie alle
haben versagt, als es galt, die Freude am Leben
höher einzuschätzen als die fanatischen Trieb-
kräfte des Machtwillens. Schöpferische Freude
am Leben aber ist Voraussetzung organischer
Kultur. Wir fragen uns heute mit tieferen Zwei-
feln, als wir uns zugestehen, ob unseren Hoff-
nungen für die Zukunft der Kultur noch Erfül-
lungsmöglichkeiten geboten sind. Vielleicht liegt
die Errettung einzig bei der künstlerischen Le-
bensanschauung, nicht etwa bei den als Ästhe-
tik fossil gewordenen Regeln und Gesetzen,
sondern bei der lebendig wirksamen Kunst.

Sind rationale und materialistische Betrach-
tungen dazu gelangt, in der Welt einen „All-
Mechanismus" zu sehen, so führt uns vielleicht
irrationale und künstlerische Anschaung dazu,
in ihr einen „All-Organismus" zu erkennen.
Außer der Natur belehrt uns nur die lebendige
Kunst, was wir unter organischer Gestaltung
und Entfaltung zu verstehen haben. Auch be-
treff der Erkenntnis der Wahrheit dürfen wir
von ihr das Höhere und Tiefere erwarten, das
uns keine bloße Vernünftigkeit zu verraten ver-
mag, so wenig uns eine Photographie das Ewige
im Wesen eines Menschen erschließt, während
ein seelenhaftes Bildnis es uns offenbart. — h.
 
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