LUCIAN BERNHARD—BERLIN. »DIELE UND FRÜHSTÜCKS-RAUM €
DIE SCHÖPFERKRÄFTE DES MATERIALS.
VON WILLI WOLFRADT.
Seit den Tagen eines Gottfried Semper gehört
der Begriff der Materialgerechtigkeit
zu den Grundsätzen aller Ästhetik der Form-
gebung, zu den fast populären Maximen insbe-
sondere jeder ernstlichen technischen oder tek-
tonischen Gestaltung. Was aber einer allge-
meineren Einsicht in diese Dinge noch kaum
recht offenbar ist — zum Schaden des Verhält-
nisses zwischen Gegenwartskunst und Publi-
kum — das ist die eminente Bedeutung dieses
Begriffs der Materialgerechtigkeit für die Mo-
derne schlechthin, — wobei man sich allerdings
eine wichtige Wesensverschiebung innerhalb
dieses Begriffes klar zu machen hat.
Verlangte man früher Materialgerechtigkeit,
so wehrte man sich insbesondere dagegen, daß
etwa der Drechsler Schmiedeformen zu imi-
tieren sich vermaß, oder daß ein Gewebe mit
Ornamenten nicht textilen, sondern vielleicht
musivischen Charakters verziert wurde. Solche
Vermischung erschien als unrein, wider die
Wahrheit, unnatürlich. Die moderne Erwei-
terung der Forderung gebietet: Belauschedas,
womit du täglich umgehst, spüre seinem Wesen
nach, ergründe seine spezifische Melodie. Be-
horche dein Material, gehorche ihm, laß dich
leiten von der ihm immanenten Rhythmik und
Harmonie, erfasse die Sprache des Stoffes. Sie
ist Dichtung, und indem du sie erfaßt, als Dich-
tung vernimmst, wird der Stoff, die Materie
erst im rechten Sinne Material: ein Grundstoff,
der nach Verwandlung und Umgestaltung strebt
und dich, folgst du ihm, befolgst du seine Sehn-
sucht, zum Dichter, zum Künstler macht. Die
Forderung der Materialgerechtigkeit ist mehr
und mehr übergegangen in das Gebot, der Idee
der Substanzen zu entsprechen, die Form aus
dem Wesen des Materials zu entwickeln, zum
Ausdruck dieses Wesens auszubilden.
Wahrheit und Natürlichkeit einer Gestaltung
sind nun in einem neuen Sinne Ziel: Form-
gebung befolgt das in den Ausgangsgegeben-
heiten stofflicher Art mitgegebene Gesetz,
drängt also nicht wesensfremde Fassung auf,
sondern beläßt allem sein Selbst, führt es nur
in eine höhere Gestalt desselben Wesens über.
DIE SCHÖPFERKRÄFTE DES MATERIALS.
VON WILLI WOLFRADT.
Seit den Tagen eines Gottfried Semper gehört
der Begriff der Materialgerechtigkeit
zu den Grundsätzen aller Ästhetik der Form-
gebung, zu den fast populären Maximen insbe-
sondere jeder ernstlichen technischen oder tek-
tonischen Gestaltung. Was aber einer allge-
meineren Einsicht in diese Dinge noch kaum
recht offenbar ist — zum Schaden des Verhält-
nisses zwischen Gegenwartskunst und Publi-
kum — das ist die eminente Bedeutung dieses
Begriffs der Materialgerechtigkeit für die Mo-
derne schlechthin, — wobei man sich allerdings
eine wichtige Wesensverschiebung innerhalb
dieses Begriffes klar zu machen hat.
Verlangte man früher Materialgerechtigkeit,
so wehrte man sich insbesondere dagegen, daß
etwa der Drechsler Schmiedeformen zu imi-
tieren sich vermaß, oder daß ein Gewebe mit
Ornamenten nicht textilen, sondern vielleicht
musivischen Charakters verziert wurde. Solche
Vermischung erschien als unrein, wider die
Wahrheit, unnatürlich. Die moderne Erwei-
terung der Forderung gebietet: Belauschedas,
womit du täglich umgehst, spüre seinem Wesen
nach, ergründe seine spezifische Melodie. Be-
horche dein Material, gehorche ihm, laß dich
leiten von der ihm immanenten Rhythmik und
Harmonie, erfasse die Sprache des Stoffes. Sie
ist Dichtung, und indem du sie erfaßt, als Dich-
tung vernimmst, wird der Stoff, die Materie
erst im rechten Sinne Material: ein Grundstoff,
der nach Verwandlung und Umgestaltung strebt
und dich, folgst du ihm, befolgst du seine Sehn-
sucht, zum Dichter, zum Künstler macht. Die
Forderung der Materialgerechtigkeit ist mehr
und mehr übergegangen in das Gebot, der Idee
der Substanzen zu entsprechen, die Form aus
dem Wesen des Materials zu entwickeln, zum
Ausdruck dieses Wesens auszubilden.
Wahrheit und Natürlichkeit einer Gestaltung
sind nun in einem neuen Sinne Ziel: Form-
gebung befolgt das in den Ausgangsgegeben-
heiten stofflicher Art mitgegebene Gesetz,
drängt also nicht wesensfremde Fassung auf,
sondern beläßt allem sein Selbst, führt es nur
in eine höhere Gestalt desselben Wesens über.