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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 53.1923-1924

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Schwabacher, Sascha: Kunstströmungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9146#0068

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KUNSTSTRÖMUNGEN.

Es gibt eine Gleichzeitigkeit der geistigen
und materiellen Entwicklung, die in ihrer
Gesetzmäßigkeit uns unbegreiflich erscheint
gleich Telepathie und Hellseherei. Wie Zau-
bereiwirkt es, wenn aus allen Winkeln der Zeit
geistesverwandte Begebnisse auftauchen, ohne
daß Ursache und Wirkung aufeinander folgen
und auseinanderzuhalten sind.

Kaum haben sich die Wunden der revolu-
tionären Schlachten in Europa geschlossen
und schon zeigt sich seltsamerweise die poli-
tisch reaktionäre Welle, k aum Wirklichkeit ge-
worden , auch in der zweckbefreiten Welt der
Kunst. Unheimlich wie die Raschlebigkeit un-
serer industrialisierten Welt, wie die rasend
sich überstürzende Entwicklung der Technik,
ist die Schnelligkeit, mit der die Kunstperioden
sich heute ablösen, neue Formensprachen sich
finden und sich erschöpfen, Kunstanschauungen
zu Tode gehetzt werden. Das läuft alles in so
eiligem Tempo, daß während im kunstbeflissenen
Deutschland das „gebildete Publikum" noch
das „Skizzenhafte" des Impressionismus ab-
lehnt, die Zünftigen schon durch Futurismus,
Kubismus, Expressionismus geschritten
sind, Primitivität und Exotik angebetet
und verschleißt haben, um wieder an den An-
fang des Kreises zurückzukehren.........

Der revolutionäre Expressionismus liegt
in der Agonie. Die allerneueste Strömung sucht
den Weg zum klassischen Frieden zurück. Wäh-
rend sich noch Kunstgelehrte von Rang in ern-
ster Arbeit mit den vielgründigen Erscheinungen
des Expressionismus auseinandersetzen (wir
nennen die Formulierungen Coellens und Lands-
bergers), fängt die neue Richtung schon an be-
graben zu werden. Es gibt Spürhunde der
Kritik, die wie ein guter Schneider die Entwick-
lung der Mode schon vor der Saison in den
Fingerspitzen fühlen und in diesem Zeichen
preisen und verdammen. Und da Kunst und
Mode sich ihre Wallungen übertragen, kehrt
schon der Gent, der gestern noch seinenShimmy
und Jazz mit der eckigen Gebärde der Primiti-
vität tanzte, zum behaglich romantischen Wiegen
des guten Wiener Walzers zurück.

Aber es geht keine Kraft verloren. Der Ex-
pressionismus hat Eroberungen gemacht dank
der Vielfältigkeit und der beinahe anarchisti-
schen Freiheit seiner Formanschauungen.

Schon der Impressionismus lockerte ja die
technischen Traditionen durch die Umwälzung
seiner Bildanschauung.

Das „l'art pour l'art" forderte nur noch eine
der Malerei spezifische Gesetzmäßigkeit; Bild-
inhalt und Bildidee wurden von allen geistigen

II. Oktober 1923. 7

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