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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 53.1923-1924

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Schwabacher, Sascha: Kunstströmungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.9146#0069

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Ktmstströmungen.

und literarischen Ansprüchen befreit; die Schön-
heit der Materie ward Zielsetzung und künst-
lerisches Agens. Aber die Delikatesse der ma-
lerischen Handschrift setzte immer noch ein
gutes Stück traditionell erlerntesKönnen voraus,
t Der Expressionismus hat diese Beding-
ungen noch aufgehoben zu Gunsten der reinen
Auswirkung schöpferischenWollens, Ausdrucks-
willen jeder Art hat in unserer Zeit sein künst-
lerisches Schöpfungsrecht erprobt (man denke
an Klee, anNolde, an Kirchner). Vielleicht wären
diese eigenartigen Begabungen, deren willens-
mäßige Anlagen nicht sehr st ark zu seinbrauchen,
auf dem früheren Weg der Kunstübung erdros-
selt worden. Der Expressionismus hat sie kunst-
fähig gemacht. Und wiederum hat diese Rich-
tung auch die Ästhetik gezwungen ihre Pfähle
weiterzustecken. Die Kunsttheorie des Expres-
sionismus wendet ihren Maßstab gleichsam vom
Werk auf den Schöpfer zurück an. Das Werk
gilt als nichts anderes, als die Manifestation
des schöpferischen Triebes, „der sich selber
zur Form begrenzt hat".

Möglich, daß eine neue Ästhetik eine weitere
Abgrenzung vollzieht, den Begriff „Kunstwerk"
noch einmal teilt in die triebhaft entstandene
künstlerische Äußerung und die durch den Wil-
len und den Geist hindurchgegangene Leistung.

Man denkt an die wunderbare Idee Kleist's
im „Marionettentheater". Reinen kunstgewor-
denen Tanz gibt die Gliederpuppe, die ohne
Hemmung des Bewußtsein ist, und der Gott,
der durch alle Bewußtheit hindurchgegangen
und wieder rein geworden ist von der Trübung
intellektuellen Willens.

Aber ohne Fragen sind die Quellen des Ex-
pressionismus heute bereits erschöpft. Es fragt
sich nur, ob die neue Wendung zum Klassizis-
mus der Ausklang einer absterbenden Stilepoche
oder das Dämmern einer neuen Formbewegung
darstellt. Der Anfang scheint mehr modisch als
elementar, aber gerade die Parallelerscheinun-
gen zum politischen Leben machen aufhorchen.

In Paris zeigt sich zuerst die Wendung. Die
erste Rückwärtsbewegung vollzog Picasso mit
einer Schar von Nachläufern, die die Witte-
rung des Meisters suchten. Picasso, der Führer
des Kubismus in Frankreich (die Bewegung des
„Sturm" in Deutschland und die ganze, revo-
lutionäre Strömung in den Nachbarländern, in
Italien, Rußland, Holland usw. gehen von ihm
aus), der Maler, der seiner Zeit im Kubismus
die Betonung der rhythmischen Gliederung,
gleichsam den Kontrapunkt des Bildaufbaues
gefunden zu haben glaubte, hatte sich schließ-
lich in die lebensleere Konsequenz der ganz
geometrischen Bildaufteilung verloren. Er ist

der Erste wieder, der die in Etseskälte der Ab-
straktion verirrte Bewegung in die blühende
Welt der realen Erscheinung zurückzuführen
sucht. Er will den kubisch architektonischen
Aufbau, den „esprit constructiv", den Extrakt
des Kubismus, wieder mit der organischen Form
beleben und kommt auf den Weg des franzö-
sischen Klassizismus der Ingres und David
zurück. So taucht in Paris ein erneuter Akade-
mismus auf unter der Überschrift „Neo-Klas-
sizismus", der das geheime Ziel verfolgt,
wieder „Museum zu machen", indem er sich
nicht scheut Werke von Giotto, Botticelli und
Ingres zu kopieren. Auch der Russe Archi-
penko und in Deutschland Karl Hofer in
einigen neueren Werken und Maler dekora-
tiver Sensibilität wie Kokoschka, Meidner,
Mense folgen diesen Spuren, Kokoschkas
Umkehr könnte bei der Impressionabilität seines
Pinsels auf den Einfluß der akademischen Atmo-
sphäre (er ist Professor in Dresden) zurück-
geführt werden. Im einzelnen kann man immer
psychologische Gründe finden. Doch wenn man
die Entwicklung des Ganzen sieht, das Zusam-
menfließen der verschiedenen Quellen zu einem
Strome, muß man die Ursachen tiefer in uner-
forschlichen Entwicklungsgründen suchen.

Literarische Dokumente aus unserer Zeit
liegen auch bereits vor. Westheim hat ein Buch
über den „Klassizismus in Frankreich" geschrie-
ben, in dem man deutlich die neue Neigung
zum klassischen Kunstidealismus wahrnimmt.
Cezanne wird darin bereits als Erneuerer
einer klassischen Tradition gefeiert.

Von Gino Severini, dessen futuristische
Vergangenheit noch nicht vergessen sein dürfte,
erschien ein Werk über die neue Entwicklung
in Frankreich „Du Cubisme au Ciassicisme"
(Paris, I. Povolozky et Co.). Er stellt darin in
einer neuen und ganz klassischen Dogmatik die
These auf, daß es eine Wissenschaft und ein
feststehendes Maß des Schönen gäbe, die er mit
Zahl und Zirkel ergründet zu haben vermeint.
Man erkennt den typischen Ideenkreis des klas-
sischen Denkens, der immer wieder, wie zum
Beispiel im goldenen Schnitt, im rein Forma-
len die Lösung des künstlerischen Schöpfungs-
prozesses zu entdecken glaubte. Wieder scheint
eine neue Richtung das Heil von der Durchfor-
schung der Gesetzmäßigkeit eines Kunst-
werkes zu erwarten. Die neu ausgegrabene
Theorie wird vielleicht der reinen Erkenntnis
der Kunstgesetzlichkeit dienen können, wie die
Philosophie der Deutung des Weltgeschehens.

Aber so wenig Philosophie eine Welt, so
wenig kann Kunsttheorie eine Kunst schaffen.

DR. SASCHA SCHWABACHER—FRANKFURT A. M.

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