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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 53.1923-1924

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Michel, Wilhelm: Kunst und Yoga
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https://doi.org/10.11588/diglit.9146#0207

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Kunst und Yoga.

keit hat mit dem Geisteszustand des Künstlers
im Augenblick der künstlerischen „Schauung"
und des Schaffens. Von hier aus ist man dazu
gelangt, die Kunst geradezu als eine besondere
Art von Yoga aufzufassen. Jene Ähnlichkeit
ist in der Tat vollkommen. Sie beginnt schon
beim Ausgangspunkt: Wie derYogi (der Mensch,
der dieYoga- Übung ausführt) sich ein bestimmtes
Objekt sinnlicher oder fiktiver Art wählt, um
es zu meditieren und so mit ihm zu verschmelzen,
so verhält sich auch der Künstler zu seinem
Gegenstand zunächst meditierend. In dieser
Meditation zieht sich seine Aufmerksamkeit
immer dringlicher um den Gegenstand zusam-
men, bis die Zweiheit von Subjekt und Objekt
schwindet und beide zu einer einzigen, unge-
schiedenen Lebendigkeit werden. Es kommt
zu jenem Bewußtseinszustand, der durchaus
keine Trunkenheit ist und der doch so oft mit
einem Rausch verglichen wird. Er bestimmt
sich im Gegenteil durch eine Art mächtiger
Nüchternheit, wo alles divinatorisch klar, alles
visionär wird und doch die tiefsten Kräfte aus
dem Bereich des Irrationalen vollkommen wirk-
sam sind. Von hier aus setzt der geheimnisvolle
Vorgang ein, den jeder echte Künstler wenig-
stens in Andeutungen kennt: daß nämlich das
Werk, das als bewußtes Menschengemächte
begann, sich vom Schöpfer gleichsam ablöst
und ein selbständiges Wesen mit ganz deut-
lichem Eigenleben und sehr fühlbarem Eigen-
willen wird. Indische Quellen sagen: „Der
Gläubige sagt das Dhyana Mantram (eine be-
stimmte Meditationsformel) her, das die Gott-
heit beschreibt und das ihr entsprechende
geistige Bild hervorruft, und dieser durch Ein-
bildungskraft erzeugten Form bringt er dann
seine Gebete und seine Gaben dar. Der Künstler
folgt denselben Vorschriften, aber er stellt das
geistige Bild unter einer sichtbaren, objektiven
Form dar, indem er es zeichnet oder modelliert".
Beim Gläubigen wie beim Künstler vollzieht
sich also der gleiche Vorgang der Erschaffung
und Verselbständigung des geistigen Bildes, und
zwar so sehr, daß dieses Bild im ersteren Falle
Gebete und Opfer entgegen nehmen kann,
während es im zweiten Falle Worte, Töne,
Farben, Formen oder eine andere entsprechende
Werkmaterie gewissermaßen selbsttätig anzieht,
sich damit sättigt und so verleibt.

Sogar der gewöhnliche Handwerker voll-
bringt nach indischer und chinesischer An-
schauung (man denke an die Geschichte vom
Glockenstuhlmacher bei Tschuang-Tse) bei
seiner Arbeit geistige Übungen, die denen des
Yoga entsprechen. Um den ganz bestimmten
Zustand zwischen Bewußtseinsschärfung und

Bewußtseinsdämpfung beim Yogi klarzustellen,
verweist Cankaracharya (in seinem Kommentar
zum Brahma Sutra) auf den Pfeilmacher. Er
spricht erst von dem Unterschied zwischen dem
Zustand der Ohnmacht und dem Zustand des
Wachseins. In der Ohnmacht nehmen die Sinne
keine Dinge mehr wahr und auch der Pfeil-
macher nimmt nichts wahr außer seiner Arbeit,
wenn er in sie versenkt ist. Aber er hat trotz-
dem Bewußtsein und Herrschaft seines Körpers,
Dinge, die alle gleichermaßen schwinden bei
dem, der ohnmächtig wird."

Buddhistische Anweisungen geben, aus dem
Wissen heraus, daß Yoga-Übung und künstle-
rischer Schaffensprozeß eine lange Strecke
parallel laufen, das ideale Verfahren eines
Künstlers in folgender Weise an. Nach der
Zermonie der Reinigung muß sich der Künstler
an einen einsamen Ort zurückziehen. Dort muß
er die siebenfache Bitte hersagen, die die Heer-
scharen der Buddhas und Bodhisattvas anruft,
und muß ihnen wirkliche oder fiktive Blumen
darbringen. Dann muß er im Gedanken die
vier „unbegrenzten Weisen" des Wohlwollens,
des Mitleids, der Zuneigung und der Unpartei-
lichkeit verwirklichen. Er muß über die Leere
oder die Nichtexistenz aller Dinge nachdenken,
denn „durch das Feuer der Idee des Abgrunds,
so ist gesagt, werden die fünf Bestandteile des
Ich-Wahns unwiederbringlich zerstört." Dann
erst darf er die gewünschte Gottheit anrufen
und sich vollkommen mit ihr verschmelzen.
Schließlich muß er das Dhyana Mantram spre-
chen, und da wird ihm die Gottheit sichtbar
erscheinen „wie ein Widerglanz" oder „wie im
Traum", und dieses glänzende Bild wird dann
dem Künstler zum Modell.

In diesem Verfahren sind eine ganze Reihe
von Zügen, von Einzelstationen angegeben, die
wir ebenso, freilich auf andere Weise erzielt,
bei vielen Künstlern des europäischen Kultur-
kreises wiederfinden: Das Zurückziehen in
Einsamkeit und Stille, die Überwindung des
Tagesbewußtseins, das Eintreten in eine Umluft
überpersönlicher Sympathie, die Auslöschung
des niederen Ich, die Verschmelzung mit dem
darzustellenden Gegenstand, hier der Gottheit.
Wir brauchen nur an Aussprüche zu denken
wie an den von Goethe: „Wer zur Vision der
Schönheit gelangt, ist von sich selbst befreit",
oder von Riciotto Canudo: „Das Geheimnis
aller Kunst ist das Vergessen seiner selbst";
oder von dem Engländer Binyon: „Wir müssen
uns leer machen, damit die große Seele des
Alls uns mit ihrem Hauch erfülle"; oder von
Dante: „Wenn einer eine Gestalt malt und er
kann nicht sie werden (d. h. sich in sie verwan-
 
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