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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 53.1923-1924

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Das Stilleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.9146#0236

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DAS STILLEBEN.

Darstellungen von Gegenständen außertieri-
schen Lebens nennt die französische Kunst-
sprache „Tote Natur", die deutsche „Stilles
Leben". Der deutsche Ausdruck hat ohne
Zweifel den Vorzug größerer „Sinnigkeit", in-
dem er mit vollem Recht auch denjenigen Dingen
Leben zubilligt, die nicht gehen und fliegen,
fühlen und handeln. Diese Anschauung ent-
spricht in feiner Weise dem großen romantischen
Grundgefühl unsres Volksgeistes, der die Welt
als etwas spezifisch Lebendiges begreift und
auf Gedeih und Verderb mit dem Gedanken
einer alldurchdringenden Lebensregung und
Naturbeseelung verbunden ist. Besonders in
der j üngstenKunstepoche ist dieser romantische,
pantheistische oder auch naturmystische Zug
unsrer Malerei stark hervorgetreten. Wenn ein
Nolde Blumen darstellt, so führen diese ein so
deutliches, ein so „sprechendes" Leben, daß
sie einem Chor leidenschaftlich erregter und
willensvoller Personen gleichen, deren Daseins-
inbrunst uns fühlbar mit heißem Atem anweht.
Das Gleiche gilt für Stilleben von Pechstein,
von Heckel und anderen. Hier versammeln sich
die Dinge zu stiller Feier des großen Lebens-
festes oder zu rauschhaften Orgien oder zu einem
Gedankenaustausch von ernster, trauernder
Schwere. Die Lust und die Rätsel des Daseins,
die Freude und den Druck tragen sie wie Tier
und Mensch. Sie kennen die schaurige, be-
trübte Isolierung, die Lebensangst, sie kennen
den freudigen, zuversichtlichen Mut, die Lebens-
frömmigkeit und die Liebe. Stets sind sie ein-
gegliedert in einen bestimmten Weltzusammen-
hang, dessenLebenswegen widerstandslos durch
ihre Formen hinspülen. In der Tat: die an-
scheinend unbelebten Dinge sind nicht tot. Sie
führen unser Leben mit, stehen unter dem glei-
chen Fluch und Segen wie wir und gehören so
innig zu unsrer Welt, daß wir sogar zu ihnen
in die Schule gehen und von ihnen lernen kön-
nen. Ein großer Lehrer der Menschheit hat
den unwissenden Menschen die Lilien auf dem
Felde und die Vögel unter dem Himmel als
Lehrer vorgerückt. Und kaum kann man über
die Lehr weise des „stillen Lebens" etwas Schö-
neres sagen als was der große Däne Sören
Kierkegaard darüber gesagt hat. Es trifft den
Herzpunkt unsrer Naturauffassung, wie sie
auch in unsrer Kunst sich auswirkt. „Die Lilie
und der Vogel", sagt Kierkegaard, „die nur
damit beschäftigt und darin vertieft sind, zu
unterrichten, lassen sich nichts merken, sie

sehen weder zur Rechten noch zur Linken,
weder loben noch schelten sie, wie ein Lehrer
es sonst tut. Gleichwie er, der Lehrer, von
dem gesagt wird, er kümmerte sich um nie-
mand, sah nicht auf die Person der Menschen,
also kümmern sie sich um niemand oder sie
kümmern sich nur um sich selbst. Und doch
ist es beinahe eine Unmöglichkeit, von ihnen
nicht etwas zu lernen, wenn man auf sie acht-
gibt. . . . Kann der Mensch nicht schon das von
ihnen lernen, was unterrichten heißt; nicht damit
großzutun, sondern darin zuerst für sich selbst
zu leben, und dies doch auf so erweckliche, so
ergreifende, so lockende Weise, und außerdem
auf so billige und dadurch so rührende Art,
daß es unmöglich ist, nicht etwas daraus zu
lernen? So wohlwollend sind diese Lehrer
gegen den Lernenden, so menschlich, so würdig
ihres göttlichen Berufes I Hast du etwas ver-
gessen, so sind sie gleich bereit, es dir zu wie-
derholen, und wiederholen es dann auch so
lange, bis du es kannst. Und lernst du et-
was von ihnen, so schreiben sie alles dir zu
und tun, als ob sie gar keinen Anteil daran
hätten. Sie geben keinen auf, wie ungelehrig
er auch sei, und sie verlangen keine Abhängig-
keit, auch nicht von demjenigen, der am meisten
bei ihnen lernte! Es ist schon viel, wenn ein
menschlicher Lehrer etwas von dem tut, was
er sagt; meistens macht man wohl viele Worte,
aber tut nur wenig von all dem, was man sagt
— ach! aber auch diese Bemerkung hätte der
Vogel oder die Lilie nie gemacht! Aber ihr,
Vogel und Lilie, ja, ihr tut allerdings in einem
gewissen Sinne auch nicht, was ihr sagt; ihr tut
es, ohne etwas zu sagen. Doch diese eure
wortkarge Stille und diese eure Treue gegen
euch selbst jahraus jahrein, solange es Tag ist,
ob anerkannt oder nicht anerkannt, verstanden
oder mißverstanden, gesehen oder ungesehen,
dasselbe zu tun — o, welche wunderbare
Meisterschaft des Unterrichtens ist das!"

Gehört das zur Theorie des Stillebens? Ich
glaube, ja. Besonders wenn ich hinzufüge, daß
Kierkegaard es als eine Hauptwirkung dieses
„Unterrichts" bezeichnet, daß Lilie und Vogel
„uns aufs allererste zu einem Lächeln besänf-
tigen". In solcher Besänftigung des ewig be-
wegten und kämpfenden Gemüts zum Lächeln
fließt die Wirkung der Blume und die Wirkung
der Kunst in eins, um uns verschwistert zu
jener Stille des Lebens zu bringen, in der alles
Dauernde und Gute unsres Wesens erwacht. —
 
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