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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 53.1923-1924

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Neurath, Walter: Georg Merkel, Wien
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https://doi.org/10.11588/diglit.9146#0240

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GEORG MERKEL—WIEN. »LANDSCHAFT« 1922.

GEORG MERKEL-WIEN.

Die Kunst ist tot, es lebe das Leben! Die
Zeit ist nicht fern, da dieser Ruf, der heute
nur den Lebendigsten klingt, auch jene, die
seine Konsequenz zu fürchten haben, zu ihr
zwingen wird. Mit Notwendigkeit geht die Ent-
wicklung dahin: die Grenzen, die einen klein-
sten Bezirk aus dem Leben herausholen, um
alle Gestaltungskraft in ihm zu sammeln, wenig-
stens ein Bereich der Lebendigkeit im unleben-
digen Leben zu schaffen, diese Schutzmauern,
ohne die Kunst aufhört, Kunst zu sein, sie
werden fallen. Überdruß und Gläubigkeit wer-
den nicht fragen und wägen, ob das irgendwie
doch begrenzte Quantum an Lebens-Gestal-
tungskraft hinreiche, das Unbegrenzte zu for-
men, aus dem es nun keine Flucht mehr geben
wird in das lebensgestaltete Gebiet der Kunst.

Zu solcher Entwicklung bedeutete der Ex-
pressionismus ein Vorspiel. Seine Gläubigkeit
verließ Regel und Rahmen bisheriger Kunst,
wollte Herrschaft über das Leben, aus dem er
die Kraft gesteigerten Augenblicks bezog. Aber

er ließ nicht die Kunst im Leben aufgehen, hielt
fest an Bild und Plastik und zerbrach so an der
undurchbrochenen Mauer, die ihn, der mehr als
Kunst war, nicht zum Leben gelangen ließ.

Heute sind es drei Möglichkeiten, die den
Künstlern verblieben: Keine Kunst mehr machen.
Oder: abermals einen Kompromiß schließen
und wieder Kräfte aus den unmittelbaren Le-
bensgebieten holen; wo nicht Elemente und
Konstruktionsprinzipien der Technik oder so-
ziale Stoffe stärkster Erregungskraft übernom-
men werden, findet etwa im Fresko oder in zum
Fresko tendierender Ölmalerei der Anschluß
an das Bauen statt. Sollten diese Einstellungen,
die, vom Expressionismus scharf getrennt, trotz
ihrer gegenwärtigen Kraft Umbiegungen sind, in
lebendige Zukunft weisen?

Schließlich: in strenger Handwerklichkeit ar-
beiten. Unbeirrt wird dieser Weg gegangen,
ohne nach Expression des Individuellen zu stre-
ben, ohne das Problem zu stellen, was die Zeit
von der Kunst fordere (sie würde die Antwort

iXVLT. Februar 1924. 1
 
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