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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 53.1923-1924

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Michel, Wilhelm: Neue Gesinnung in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9146#0320

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ERNST FRITSCH—BERLIN. »SEEUFER IM WINTER«

NEUE GESINNUNG IN DER KUNST.

Die expressionistische Welle ist verebbt.
Nicht in dem Sinne, daß alles, was dieses
letzte Jahrzehnt geschaffen hat, nun zum alten
Eisen getan wäre. Sondern in dem Sinne, daß
die Programme, die Erregungen, die Tendenzen
und Gesinnungen dieses Zeitabschnitts ihre be-
wegende und zeugende Kraft verloren haben.
Wir stehen vor einer neuen Kunstgesinnung.
Mag sie auch noch nicht durch eine große An-
zahl von Werken belegt sein, so ist ihre Exi-
stenz doch nicht zu übersehen. Der geistesge-
schichtliche Schritt über den Expressionismus
hinaus ist ohne Zweifel getan.

Wie sieht diese neue Kunstgesinnung aus?
Ihr wesentliches Merkmal ist die veränderte
Stellung zum Ich. Jüngst sprach Friedrich
Hogarten über den protestantischen Menschen.
Seine Rede wurde zur Kriegserklärung an das
Ich, das sich für das Schöpferische und Primäre
hält und Gott an die zweite Stelle verweist.
Es wurde betont, daß dies eine Verkehrung der
ursprünglichen Ordnung bedeutet, daß das Ich
ewig an die zweite Stelle gehört, daß es nur im

Durchbruch zur Welt und in der lebendigen,
demütigen Begegnung mit ihr zur alten Ordnung
zurückfindet. Dies scheint zunächst nur eine
religiöse Entscheidung des Menschen zu betref-
fen. Aber es bezeichnet in Wirklichkeit sehr
genau die neue künstlerische Entscheidung, vor
der wir stehen. Die expressionistische Kunst-
gesinnung erhebt sich durchaus auf jener Ein-
schätzung des Ich als einer primären Tatsache.
Sie ist schroffe Behauptung des Subjekts. Das
Ich wohnt in einer abgesperrten, unzugänglichen
Burg als ein absoluter Herr. Es schaltet und
waltet über alle Dinge und Formen nach eigenem
Gefallen. Es gibt sich nicht an die Welt hin,
es schafft sich seine Welt. Es glaubt nur an
seine Erlebnisse, an seine Affekte und Ein-
sichten. Die Dinge haben sich ihm zu fügen.
Es kennt daher auch keine wahre Begegnung
mit dem Objekt, es hat weder innen noch
außen ein wirkliches Du.

Die neue Kunstgesinnung hat indes das Ge-
fährliche, das Abschnürende und Weltzerstö-
rende dieser Geisteslage erkannt. Ihr Losungs-
 
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