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Richter, Ludwig; Eckert, Karla
Die heilige Genoveva — Der Kunstbrief, Band 36: Berlin: Mann, 1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.72964#0040
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mit, als es seine Mutter so traurig sah. Allmählich jedoch
gewöhnte sie sich an so große Mühseligkeiten, und auch der
Knabe ward abgehärtet und stark. Da dankte sie Gott, daß
er sie mit ihm aus der Gefahr der Welt errettet und in die
Wüste geführt hatte. Die meiste Zeit brachte sie mit heiligem
Gebete zu und übte sich je länger je mehr in der Andacht
und der himmlischen Liebe.
Einst nun, als sie vor ihrer Höhle kniend ihre Augen
betend gen Himmel gerichtet hatte, da sah sie staunend ein
Wunder sich ereignen. Ein Engel flog herab aus der Höhe,
der trug ein gar schönes Kreuz in seinen Händen, an wel-
chem der sterbende Heiland aus Elfenbein abgebildet war,
künstlicher als Menschenhände es vermögen. Dies Kruzifix
reichte ihr der Engel und sprach mit holdseligen Worten zu
ihr: „Nimm dieses heilige Kreuz, Genoveva, welches dein
Erlöser dir zum Trost vom Himmel herabsendet. In ihm
sollst du dich beschauen und spiegeln; vor ihm dein Gebet
verrichten. Tröste dich mit diesem Kreuz, wenn du betrübt
bist; fliehe zu ihm, wenn du angefochten bist; wenn dich
Ungeduld überfällt, so erinnere dich an die Geduld dessen,
der an diesem Kreuze hangt." Als der Engel dies gesprochen,
stellte er das Kreuz vor ihr nieder und verschwand vor
ihren Augen. Das Kreuz aber blieb leibhaftig stehen. Geno-
veva nahm es und entdeckte bald in ihrer Höhle einen natür-
lichen Altar, aus Felsen geformt. Dort stellte sie es auf und
warf sich mit andächtiger Demut davor nieder, betrachtete
ihren gekreuzigten Erlöser vom Haupt bis zu den Füßen,
vergaß so ihr eigenes Leid und wurde von so großem Mit-
leid verwundet, daß ihr das Herz im Leibe zerspringen wollte.
An dem Kreuze hatte sie ihren höchsten Trost, dem Kreuze
klagte sie ihr Leid. Im Sommer zierte sie es mit grünen
Maien und feinen Waldblümlein, im Winter umschlang sie
es mit Tannenreisern und immergrünen Wacholderstauden.
Inzwischen erstarkte ihr lieber Sohn Schmerzenreich und
lernte allgemach gehen und reden. Genoveva unterrichtete
ihn, so gut sie in der Einsamkeit konnte, und hatte mancher-
lei Kurzweil mit ihm und herzlichen Trost durch das Kind.

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