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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 1) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19016#0141
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das 6. und 7. Jahrh. noch vereinzelt, werden aber späterhin im 10. und 11. Jahrh. ein hau?
figes Merkmal sicher byzantinischer Seidenstoffe (vgl. Abb. 241, 243, 244, 245). Schließlich
dürfen neben der spätantiken, gänzlich unorientalischen Gewandung der Tierkämpfer auch
die Kreuze auf ihren Köpfen nicht übersehen werden. Mag das Kreuz unter dem Palm?
bäum wie auf dem Kunibertstoff lediglich Raumfüllung sein, so kann man doch die so auf?
fällig hervortretenden weißen Kreuze über der Stirn der vier Männer schwerlich als be?
deutungslosen Zierat hinnehmen.1) Als christliches Symbol aufgefaßt, und etwas anderes
ist kaum denkbar, haben sie vielleicht den Zweck, die Kreuzträger als Märtyrer zu bezeich*
nen. Sie wären dann ein Mittel, um einem profanen Muster, das in der älteren alexandri?
nischen Ausführung der Verkündigungswerkstatt Tierkämpfer der Arena, Venatores oder
Bestiarii darstellte, christliche Bedeutung zu verleihen und es einem besonderen kirchlichen
Gebrauch anzupassen.

Daß dieser Stoff spätestens im 7. Jahrh. in den päpstlichen Reliquienschatz nach Rom
gekommen ist, scheint aus einem Bericht des Liber pontificalis hervorzugehen. In der Vita
Sergius' I (687—701) wird wahrscheinlich von einem Augenzeugen erzählt, daß der Papst
in einem sehr dunklen Sakristeiwinkel der Petersbasilika einen durch Alter geschwärzten
und unscheinbar gewordenen Silberkasten entdeckte. Bei der Öffnung fand sich zunächst
ein Kissen aus der Seidenstoffgattung, die Stauracin genannt wird (plumacium ex holosirico,
quod stauracin dicitur 2). Unter dem Kissen kam ein kostbares Kreuz zum Vorschein, das
ein großes Stück de ligno sancto enthielt. Papst Sergius ließ den Fund zur Lateransbasilika
bringen, wo die Reliquie alljährlich am Tag der Kreuzesfeier dem Volk zur Verehrung dar?
geboten wurde. Aus der mittelalterlichen Geschichte des altehrwürdigen Schatzes der La?
teranskapelle und aus seinen Verzeichnissen hat der Neuentdecker H. Grisar:!) den Schluß
gezogen, daß das von Sergius I gefundene Kreuz und Kissen identisch sind mit dem noch
heut vorhandenen Zellenschmelzkreuz und dem Kissen, als dessen Bedeckung der Tier?
kämpferstoff bisher gedient hat. Danach müßte die Entstehung des Gewebes erheblich vor
die Zeit des Papstes Sergius gesetzt werden.

Der Zufall der Erhaltung hat es gefügt, daß die hier vorgeführten oströmischen Seiden?
stoffe trotz ihrer sehr kleinen Zahl doch verschiedene Richtungen des byzantinisch?syrischen
Seidenstils spätantiker Zeit veranschaulichen. Dem inhaltlich und formal echt antiken Quadri?
gastoff, in dem die Leidenschaft der Zirkusspiele sich spiegelt, steht der stark orientalisierte
Kunibertstoff gegenüber und von den Tiermustern ist im Münsterbilsener Tigerstoff wenigstens
ein frühes Beispiel überliefert. Trotzdem darf man sich nicht verhehlen, daß diese zwar bedeu?
tenden, aber allzu spärlichen Denkmäler doch nur ein sehr unvollständiges Bild vom Formen?
schätz der syrisch?byzantinischen Seidenkunst gewähren. Auffällig ist für eine Zeit, deren
geistiges Leben in so hohem Maß von christlich?dogmatischen Fragen bewegt und aufge?
wühlt wurde, daß die kirchlichen Muster gänzlich verloren sind. Wenn auch die Tier?
kämpfer des letztbesprochenen Vatikanstoffes zu Glaubensstreitern oder Märtyrern umge?
deutet sind, ähnlich den ursprünglich auch profanen koptischen Reiterheiligen, so bleibt
das doch nur ein oberflächlich christianisiertes Zirkusmuster. Nichts ist vorhanden, was
an die biblischen Bilderstoff e des Asterius und Paulus Silentiarius erinnert oder dem alexan?
drinischen Verkündigungsstoff und den Koptenwirkereien christlichen Inhalts an die Seite

0 Die Kreuze sind auf der Abbildung bei Grisar a. a. O. S. 126 deutlicher herausgekommen, als auf
unserer Tafel 18.

2) Der Name Stauracin gehört zu den verschiedenen griechischen Benennungen von Seidengeweben,
die im Liber pontificalis oft vorkommen, deren nähere Bedeutung aber nicht mehr festgestellt werden kann.
Es wäre auch damit, daß wir im Jägerstoff einen Staurax kennen lernen, nichts geholfen. Denn er ist von
derselben Köpertextur, die so ziemlich allen reichgemusterten Seidenstoffen der Spätantike gemeinsam ist.

3) Die Kapelle Sancta Sanctorum S. 66.

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