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10 Von Achten

thüre nnd das lachende Gesicht eines jungen Mädchens guckte
heraus.

„Guten Morgen, Herr Lemaitre!" rief sie, „ach — Sic
machen schon wieder Ihr langweiliges Gesicht!"

Da bemerkte sic mich, crröthcte und zog sich rasch zurück.
Wir traten in's Zimmer. Lächelnd wies ich nach der Thüre.
— „Ist das die Geschichte?" fragte ich.

„Der Fratz? Was fällt Ihnen ein!"

„Ich finde, das; sie ein ganz reizendes Kind ist und —
Honoro, glauben Sie einem Dichter, der aus wenig Zügen das
Geheimniß einer Seele crräth ■— das Mädchen liebt Sic."

„Da dürften Sie sich doch täuschen! Wenn Sie gesagt
Hütten, sie hat Lust zu heirathcn — ja, dann Hütten Sie den
Nagel auf den Kopf getroffen. Das ist so ein oberflächliches,
leichtsinniges, gemüthsarmes Geschöpf, dem jeder höhere Seclcn-
aufschwung mangelt, das nur eine Sehnsucht kennt, Mann und
Frau zu spielen. Sie hat kein Herz —"

„ Jetzt dürfte die Täuschung auf Ihrer Seite sein —"

„Nein — ich irre mich nicht. Ich kenne sic zu genau.
Hören Sic nur, und Sic sollen selbst urtheilen. — Kürz,
nachdem ich diese Wohnung bezogen hatte, kam ich einmal von
einem Geschäftsgang nach Hause. Ich sah sic unten vor der
Kellerthüre stehen — ein Licht in den Händen. „Ich bitte
Sie," sprach sie mich an, „haben Sic nicht ein paar Zünd-
hölzcn bei sich?" Die hatte ich nun nicht, aber, ich muß es
gestehen, ihr Gesicht ist nicht übel und hatte mir gefallen; ich
stammelte ein paar Worte von „bringen" u. s. w., sprang rasch
meine drei Treppen empor, nahm die ganze Schachtel Zünd-
hölzchen und brachte sic ihr hinab. — Sie stand schon auf den
ersten Stufen der Kellerstiege, ich eilte schnell zu ihr, und nun
stritten wir einige Zeit, da sic durchaus nur zwei Zündhölzchen
annchmen, ich ihr aber mehr aufdringcn wollte. Wir wurden
bei dem Streite ein bischen lebhaft, sie stolperte — zufällig
oder absichtlich — ließ die Zündhölzchen fallen, ich wollte sic
ihr aufhcben, sie wollte dasselbe, unsere Köpfe trafen sich, nicht
unsanft, sondern sehr sanft, leider sehr sanft, denn mich
hatte in dem Augenblicke alle Vernunft verlassen . . . Noch
denselben Tag wußte das ganze Hans, die ganze Straße die
Geschichte. Im Wirthshause saßen die Philister beisammen
und erzählten sich von dem neuen, galanten Friseur. Meine
Kunden fragten hänselnd, wann ich Hochzeit hätte, und merk-
würdiger Weise begegnete ich, so oft ich jetzt meine Wohnung
verließ, der Mutter Netti's, die mich mit einem so seltsam
freundlich lachendem Gesichte ansah und grüßte, daß ich immer
so rasch als möglich retirirtc — aus Furcht, sie könnte plötzlich
den Mund ausmachen: „Ja, warum kommen Sie denn nicht,
Herr Lemaitre, daß wir die Sache ordnen, wegen der Aussteuer
n. s. w." Nun frage ich Sic aber, wer kann das Alles
wicdererzählt haben als Netti selber und — wird ein Mädchen
von Gemüth so etwas thun? — Ich war von da an sehr kalt
gegen sie nnd grüßte nur höflich, aber, wie sie sehen, sic ver-
folgt mich immer —"

„Sic scheinen ihr aber doch nicht abgeneigt gewesen
zu sein?"

„Das war eine vorübergehende Aufwallung. Nur eine

der Siebente.

Anfechtung des Teufels. Kann denn Liebe sein, wo kein Gemüth?
Ach und bald darauf habe ich ein Wesen kennen gelernt —
ein Wesen — ach! Herr Doctor, nichts als Gemüth, nichts
als Seele. Ein Wesen, wie ein Mondstrahl, wie ein Lilien-
stcngcl — nein, wie der Athen: einer Lilie —"

„Ei, ei, Lemaitre! Sic haben Anlage zum Poeten —"
„Anlage? Gott, ich sollte es ja werden. Nil!« pardons,
monsieur ich habe Ihnen noch keinen Stuhl angcbotcn — ich
bitte hier!" Sehen Sie, dieser Kasten — er ist mein Schick-
sal, mein Unglück, meine Geschichte. Erschrecken Sic nicht!"

Er zog an einer Schnur, der grüne Vorhang, der die
Fenster des Glaskastens verhüllte, schnellte zurück nnd — ich
sah mich erstaunt um. War ich in dem Zimmer von „Honore
Lemaitre, Coiffeur?" Ja, da stand er, in seiner schwarzen
Blonse, mit weit übergeschlagenem, weißem Hcmdkragcn nnd
rother, in einem losen Knoten geschlungener Craöatte, das
blasse Antlitz wehmüthig auf den Kasten gerichtet und mit den
Fingern langsam das schwarze Schnurbärtchen drehend.

Ich wandte mich wieder um und betrachtete genauer den
Inhalt des Kastens. Da standen in einer Reihe acht Gläser,
jedes ein neugeborenes Kind in Spiritus enthaltend, mit Aus-
nahme des vorletzten, in welchem eine Papierrolle nnd ein
Büchelchen.

Ich las, immer mehr erstaunend, die Aufschriften, mit
welchen die Gläser versehen waren. Sie lauteten der Reihe
nach, wie folgt:

1. Glas: Rens Descartes Lemaitre, größter Philosoph des

19. Jahrhunderts.

2. Glas: Amads Lemaitre, Präsident der vereinigten Staaten

von Europa.

3. Glas: Louis Napoleon Lemaitre, Feldherr.

4. Glas: Fclicicn Lemaitre, großer Erfinder.

5. Glas: Pierre Alexandre Lemaitre, verräth Anlagen, alles

sehr zu verwickeln, dürfte daher sich als Diplomat
mit der Lösung der orientalischen Frage befaßt haben.

6. Glas: Victoricn Lemaitre, Journalist (die krumme Nase

dürfte darauf hindeuten).

7. Glas: Honors Lemaitre, größter Dichter des 19. Jahr-

hunderts.

8. Glas: Sulpiz Lemaitre. Ist in einem so gänzlich unvoll-

kommenen Zustande zur Welt gekommen, daß man
keinen Schluß auf seine Bestimmung ziehen konnte.
Vcrmuthcn kann man nur, daß er sich zum Minister
geeignet hätte, da seine Physiognomie eines ent-
schiedenen Ausdrucks ermangelte.

„Sic sehen hier," begann Honors nach einer Weile, „meine
Brüder; alle raffte sic der Tod gleich nach ihrer Geburt hinweg,
nur ich blieb über, der siebente von achten. Mein Vater war
ein Franzose — er war in Wien französischer Sprachmcistcr.
Sein Testament wird Ihnen den besten Aufschluß über seine
Eigenheiten geben. Hier ist es . . ."

Damit öffnete er das siebente Glas, nahm die Papierrolle
! heraus und reichte sic mir. Ich las:

„Mein Sohn!"

„Mit den bedeutenden Geisteskräften, die mir die Natur
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