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Der Unsterbliche und der Kadi.
phanten, auf denen die Aeltesten der Stadt Platz genommen
hatten; dann kamen hundert Derwische und hierauf, um-
geben von der Leibwache und einer zahllosen Volksmenge,
der Kadi, ans einem von den vier höchsten Beamten ge-
tragenen Palankine sitzend und eifrig Gebete verrichtend. Am
Rande des Wäldchens machte der Zug halt. Der Ober-
priester sang ein eigens für diesen Zweck gedichtetes Gebet
und dann betrat Jbu-Hakim barfuß und voll ehrfürchtigen
Schauers das Wäldchen und entschwand den Blicken der
Menge. Ein eigens bestellter Beamter zählte genau die Minu-
ten, die der Kadi bei dem „Unsterblichen" zubrachte; es
herrschte nämlich die Ueberzeugung, daß, je länger der Abge-
sandte der Stadt bei dem heiligen Manne bliebe, desto würdiger
sei er seines Amtes.
Jbu-Hakim schritt unterdessen durch das dichte Gehölz und
befand sich bald vor der Hütte des „Unsterblichen". Nur einen
Augenblick zögerte er, daun' öffnete er beherzt die Thüre und
trat ein. Ein weites, dunkles Gemach nahm ihn auf, in welches
das Licht von oben her durch gefärbte Scheiben einfiel, die
Feierlichkeit des Ortes mehr erhöhend, als mildernd. Aber
Jbu-Hakim wunderte sich nicht wenig, als er fand, daß der
Boden mit einer unglaublich dicken Staubschichte bedeckt war.
In den Ecken standen Taburets, Rauchgerüthschaften und andere
im Staube fast vergrabene Gegenstände. Auch eine Art Tisch
war vorhanden, worauf ein Buch lag.
Jbu-Hakim wagte es, den Staub davon abzublasen und
darin zu blättern. Es war so etwas, wie ein Tagebuch, in
dem genau Tag und Stunde verzeichnet standen, wann seine
Vorgänger den „Unsterblichen" besucht hatten. Doch das Merk-
würdigste waren die Nebenbemerkuugen zu diesen Zeitangaben.
Sie enthielten Spottverse auf die Thorheit der Menge, schlecht
ausgeführte humoristische Zeichnungen, höhnische Bemerkungen
über den „Unsterblichen" u. s. w. Jbu-Hakim überflog voll
zorniger Entrüstung das Buch und schlug es dann zu. Schon
wollte er sich in einer Aufwallung grenzenloser Wuth entfernen,
als ihm eine Thüre ausfiel, die mit der Inschrift versehen war:
Nur weisen Kadis ist der Eintritt gestattet.
Jbu-Hakim öffnete mit Mühe und betrat eine Zelle, die
durch ein größeres Fenster Helles Licht empfing. Doch entsetzt
fuhr er zurück. In einer Ecke saß eine Gestalt, aufrecht, von
Kissen gestützt, von einer dichten Staubkruste bedeckt. Jbu-
Hakim starrte, seiner Sinne kaum mächtig, auf das unheimliche
Bild. Aus der anscheinend reichen Kleidung grinste ihm ein
Gerippe entgegen. Kein Zweifel mehr — das war der „Un-
j sterbliche" — aber tobt, wahrscheinlich schon seit mehr als
100 Jahren tobt; und seit dieser Zeit war an dem Volke,
das die Weisheitssprüche des vermeintlichen Unsterblichen so ehr-
furchtsvoll ausgenommen hatte, der schmählichste Betrug begangen
worden. Jbu-Hakim erinnerte sich aus seiner Jugendzeit an
eine solche Prozession. Damals war der Kadi 24 Stunden
lang bei dem „Unsterblichen" geblieben. Wie hatte sich das
Volk glücklich gepriesen, einen so gerechten Kadi zu besitzen!
Grenzenlos war die Entrüstung Jbu-Hakims, und in größter
Aufregung verließ er, nach einem Aufenthalte von kaum fünf
Minuten, die Hütte und stürmte, sich oft an den Baumwurzeln
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Der Unsterbliche und der Kadi.
phanten, auf denen die Aeltesten der Stadt Platz genommen
hatten; dann kamen hundert Derwische und hierauf, um-
geben von der Leibwache und einer zahllosen Volksmenge,
der Kadi, ans einem von den vier höchsten Beamten ge-
tragenen Palankine sitzend und eifrig Gebete verrichtend. Am
Rande des Wäldchens machte der Zug halt. Der Ober-
priester sang ein eigens für diesen Zweck gedichtetes Gebet
und dann betrat Jbu-Hakim barfuß und voll ehrfürchtigen
Schauers das Wäldchen und entschwand den Blicken der
Menge. Ein eigens bestellter Beamter zählte genau die Minu-
ten, die der Kadi bei dem „Unsterblichen" zubrachte; es
herrschte nämlich die Ueberzeugung, daß, je länger der Abge-
sandte der Stadt bei dem heiligen Manne bliebe, desto würdiger
sei er seines Amtes.
Jbu-Hakim schritt unterdessen durch das dichte Gehölz und
befand sich bald vor der Hütte des „Unsterblichen". Nur einen
Augenblick zögerte er, daun' öffnete er beherzt die Thüre und
trat ein. Ein weites, dunkles Gemach nahm ihn auf, in welches
das Licht von oben her durch gefärbte Scheiben einfiel, die
Feierlichkeit des Ortes mehr erhöhend, als mildernd. Aber
Jbu-Hakim wunderte sich nicht wenig, als er fand, daß der
Boden mit einer unglaublich dicken Staubschichte bedeckt war.
In den Ecken standen Taburets, Rauchgerüthschaften und andere
im Staube fast vergrabene Gegenstände. Auch eine Art Tisch
war vorhanden, worauf ein Buch lag.
Jbu-Hakim wagte es, den Staub davon abzublasen und
darin zu blättern. Es war so etwas, wie ein Tagebuch, in
dem genau Tag und Stunde verzeichnet standen, wann seine
Vorgänger den „Unsterblichen" besucht hatten. Doch das Merk-
würdigste waren die Nebenbemerkuugen zu diesen Zeitangaben.
Sie enthielten Spottverse auf die Thorheit der Menge, schlecht
ausgeführte humoristische Zeichnungen, höhnische Bemerkungen
über den „Unsterblichen" u. s. w. Jbu-Hakim überflog voll
zorniger Entrüstung das Buch und schlug es dann zu. Schon
wollte er sich in einer Aufwallung grenzenloser Wuth entfernen,
als ihm eine Thüre ausfiel, die mit der Inschrift versehen war:
Nur weisen Kadis ist der Eintritt gestattet.
Jbu-Hakim öffnete mit Mühe und betrat eine Zelle, die
durch ein größeres Fenster Helles Licht empfing. Doch entsetzt
fuhr er zurück. In einer Ecke saß eine Gestalt, aufrecht, von
Kissen gestützt, von einer dichten Staubkruste bedeckt. Jbu-
Hakim starrte, seiner Sinne kaum mächtig, auf das unheimliche
Bild. Aus der anscheinend reichen Kleidung grinste ihm ein
Gerippe entgegen. Kein Zweifel mehr — das war der „Un-
j sterbliche" — aber tobt, wahrscheinlich schon seit mehr als
100 Jahren tobt; und seit dieser Zeit war an dem Volke,
das die Weisheitssprüche des vermeintlichen Unsterblichen so ehr-
furchtsvoll ausgenommen hatte, der schmählichste Betrug begangen
worden. Jbu-Hakim erinnerte sich aus seiner Jugendzeit an
eine solche Prozession. Damals war der Kadi 24 Stunden
lang bei dem „Unsterblichen" geblieben. Wie hatte sich das
Volk glücklich gepriesen, einen so gerechten Kadi zu besitzen!
Grenzenlos war die Entrüstung Jbu-Hakims, und in größter
Aufregung verließ er, nach einem Aufenthalte von kaum fünf
Minuten, die Hütte und stürmte, sich oft an den Baumwurzeln
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der Unsterbliche und der Kadi"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1892
Entstehungsdatum (normiert)
1887 - 1897
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 97.1892, Nr. 2458, S. 83
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg