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Das Rathaus in Duderstadt — Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Band 6: Hameln: Verlag CW Niemeyer, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.57465#0208
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BEATRICE TROST



219 Mauritius.

220 lustitia.

220 zer in Körperform und dem lang in Serpentinen
wehenden Schleiertuch am Rücken. Beachtlich ist
das Profil der vorwärtsschreitenden, hier sehr dy-
namisch wirkenden Figur mit den bauschenden
Falten des Rockes, dem herabhängenden linken
Arm und der Waage vor dem Gewand, die sie lok-
ker mit den Fingern hält. In ihrer plastischen Ge-
staltung eingeebnet, dafür mit Schmuckmotiven
nicht sparend, präsentiert sich die Vorderansicht.
223 Hier wirkt die Figur bewegungslos, was die ruhen-
den Vertikalen der Arme mit erhobenem Schwert
und gesenkter Waage betonen. Das Gesicht unter-
stützt diesen Eindruck. Großflächig sind Wangen
und Stirn, die Lider treten stark vor, die lange Nase
und der Mund mit scharf gezeichneten Lippen sind
mit deutlichen Falten verbunden, die bis zu dem
klar separierten Kinn mit Grübchen führen. Die
zurückgenommenen Locken sind von einem
Schleiertuch teilweise verhüllt, das am Rücken in
einem kurzen und in einem langen, den rechten
Arm umschlingenden Ende schräg zu Boden fällt.
Dank ihrer Attribute ist diese Frauenfigur klar als
lustitia zu erkennen181. An einem Rathaus, einem
Ort der Gerichtsbarkeit, wird die Gerechtigkeit
häufig dargestellt, besonders markant an dem Rat-
haus in Görlitz, wo lustitia auf einer Säule die
Renaissancefreitreppe schmückt19-1.
Weniger klar ist die Deutung der zweiten Frauen-
221 figur. Sie trägt die Last des Bogens wie der hl. Mau-
ritius, unterstützt von einer Pfeilervorlage, und ist
wie dieser nicht als Freiplastik komponiert. Im Ge-
218 gensatz zu der wogenden Dynamik der lustitia
steht sie ruhig, den rechten Fuß vorgesetzt. Der
linke, entspannt herabhängende Arm umgreift den
Stock eines Ankers, der an ihrer Seite aufsteht. Die-
ser ruhigen Vertikalen antworten bei lustitia der
etwas angespannte Arm und die Waage mit der ge-
senkten Schale. Der rechte Arm ist vor die Brust er-

hoben, die Hand hält einen gewölbten Gegenstand, 221
der sich nach unten hin verjüngt, oben durch eine
tiefe gerade Kerbe in zwei Hälften geschieden ist
und in der Originalfassung grünblau staffiert war.
Das halsferne zweiteilige Gewand mit halblangen
Ärmeln ist gegürtet und in dem Schwung der Fal-
ten gegenüber lustitia deutlich zurückgenommen.
Bei beiden schmückt eine Perlenkette den Hals, die
Frau mit Anker trägt zusätzlich noch Reifen an bei-
den Armen. Das Gesicht auf dem starken, ungeglie-
derten Hals wiederholt die Züge der lustitia mit
geringen Abweichungen, wie der weniger ge-
schwungenen Oberlippe und der Erweiterung der
Haartracht durch eine zusätzliche Locke und zwei
lange Zöpfe. Statt eines Schleiers bedeckt nur eine
Agraffe mit kleiner Haube das Scheitelhaar.
Mit lustitia, einer der Kardinaltugenden, klingt
der Themenkreis der Tugenden an. Das deutlichste
Attribut der zweiten Frauenfigur, der Anker, stellt
diese vor als eine der drei theologischen Tugenden,
nämlich Spes, die Hoffnung20-1. Auch in ihrer
Tracht, dem Kleid mit halblangem Überwurf, der
Kette und dem kleinen Häubchen mit Agraffe,
folgt sie einer Vorlage, die Spes darstellt, und zwar
von Hans Burgkmair211. Damit ist der ikonographi-
sche Gehalt des Bildwerkes jedoch noch nicht voll
erschöpft. Der Gegenstand in ihrer rechten Hand
ist nach seiner Form und der Art, wie die Hand ihn
umgreift, als Herz geschildert, das in seiner grün-
blauen Fassung sehr ungewöhnlich ist. Das Herz
ist wichtiges Attribut einer weiteren theologischen
Tugend, nämlich Caritas221. Wir sind daher der Auf-
fassung, daß die reich geschmückte Frauengestalt
noch eine zweite Tugend, die Liebe, verkörpert231.
Die Deutung der beiden Frauen als lustitia und
Spes-Caritas bezieht auch die dritte Figur, den hl.
Mauritius, in den Themenkreis der Tugenden mit
ein. Einerseits dokumentiert er als Patron des Rat-

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