höchst bewegte und zugleich zur Beherrschtheit angespannte Linie umschreibt das
Körperliche, wie hei den alten Ägyptern; was an Innenmodellierung, sparsam genug,
gegeben wird, dient der Wirkungsverstärkung des Konturs. So ausgeprägt wie bei
Hodler ist das deutsche Element der Linie kaum jemals aufgetreten; aber auch niemals
in einer solchen Konzentration der reinen Form. Doch sorgt die Individualisierung, die
Charakterzeichnung dafür, daß sie nicht zur Formel erstarrt. Selbst in dem letzten
Fresko im Rathaus zu Hannover wird die Gleichheit der vielen Schwörenden aufs feinste
differenziert, so daß nirgends der Eindruck des Plakathaften, des banalen Schemas entsteht.
Hodlers Formenstrenge besteht in Symmetrie — die sich nach den Seiten hin ins
Individuelle abwandelt — in streng vertikal-horizontaler Architektonik und Ausbalan-
cierung der umgrenzten Massen, in Kontrastierung der hellen, starken Farben, die eine
sofort überschaubare Einheit ergeben, in vollendeter Beherrschung (und Übertreibung!)
des Kontraposts und jeder anderen Gliedersprache; in Eindeutigkeit des Gesichtsaus-
drucks und psychologisch wahrer Mimik, und endlich, nicht zum letzten, in der
Bindung aller Rhythmik und Bewegung an die Fläche. So erst entsteht der abstrakte
Eindruck des Freskenhaften: der Parallelismus würde aufgehoben werden durch Kon-
kurrenz des Tiefeneindrucks. Er erreicht dies Flächige durch Ausschaltung der Hinter-
grundtiefe, durch sorgfältige Angleichung der Farbe zwischen den Gestalten an deren
Farbe und der daraus folgenden Teppich wirkung des Ganzen, indem die Figuren raumlos
und völlig souverän wie auf romanischen Kirchenfresken agieren. Daß dennoch den
Gestalten jeder erdenkliche Spielraum gewährt ist und sie sich frei in ihrem Rhyth-
mus bewegen, daß sie körperlich wahr und sogar, wo notwendig, gerundet auftreten:
dieses ist das große Geheimnis des Könners Hodler. Solche Einheit von Bild und
Idee, von Figur und Fläche erscheint als Frucht seiner langen naturalistischen Schulung,
ist letzten Endes aber Gnade, Auswirkung seiner Genialität, seiner ganz deutschen, aus-
drucksuchenden Natur.
FERD. HODLER DIE NACHT
Mit Genehmigung des Verlages Rascher & Cie., A,-F., Zürich
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Körperliche, wie hei den alten Ägyptern; was an Innenmodellierung, sparsam genug,
gegeben wird, dient der Wirkungsverstärkung des Konturs. So ausgeprägt wie bei
Hodler ist das deutsche Element der Linie kaum jemals aufgetreten; aber auch niemals
in einer solchen Konzentration der reinen Form. Doch sorgt die Individualisierung, die
Charakterzeichnung dafür, daß sie nicht zur Formel erstarrt. Selbst in dem letzten
Fresko im Rathaus zu Hannover wird die Gleichheit der vielen Schwörenden aufs feinste
differenziert, so daß nirgends der Eindruck des Plakathaften, des banalen Schemas entsteht.
Hodlers Formenstrenge besteht in Symmetrie — die sich nach den Seiten hin ins
Individuelle abwandelt — in streng vertikal-horizontaler Architektonik und Ausbalan-
cierung der umgrenzten Massen, in Kontrastierung der hellen, starken Farben, die eine
sofort überschaubare Einheit ergeben, in vollendeter Beherrschung (und Übertreibung!)
des Kontraposts und jeder anderen Gliedersprache; in Eindeutigkeit des Gesichtsaus-
drucks und psychologisch wahrer Mimik, und endlich, nicht zum letzten, in der
Bindung aller Rhythmik und Bewegung an die Fläche. So erst entsteht der abstrakte
Eindruck des Freskenhaften: der Parallelismus würde aufgehoben werden durch Kon-
kurrenz des Tiefeneindrucks. Er erreicht dies Flächige durch Ausschaltung der Hinter-
grundtiefe, durch sorgfältige Angleichung der Farbe zwischen den Gestalten an deren
Farbe und der daraus folgenden Teppich wirkung des Ganzen, indem die Figuren raumlos
und völlig souverän wie auf romanischen Kirchenfresken agieren. Daß dennoch den
Gestalten jeder erdenkliche Spielraum gewährt ist und sie sich frei in ihrem Rhyth-
mus bewegen, daß sie körperlich wahr und sogar, wo notwendig, gerundet auftreten:
dieses ist das große Geheimnis des Könners Hodler. Solche Einheit von Bild und
Idee, von Figur und Fläche erscheint als Frucht seiner langen naturalistischen Schulung,
ist letzten Endes aber Gnade, Auswirkung seiner Genialität, seiner ganz deutschen, aus-
drucksuchenden Natur.
FERD. HODLER DIE NACHT
Mit Genehmigung des Verlages Rascher & Cie., A,-F., Zürich
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