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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 4,1.1924

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Benoist-Méchin, Jacques: Nationalismus: an E.R. Curtius
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https://doi.org/10.11588/diglit.42396#0020
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um dieselbe Zeit, als sie das Prinzip der menschlichen Individualität zu nivellieren und
dadurch zu zerstören suchte, der Welt ihr System der gegenseitigen Beeinflussung und
des Austausches auf und erhöhte die Verwirrung, indem sie die Grundlagen der natio-
nalen Individualität untergrub. Eine Erschütterung an der Börse von New-York rief
eine gefährliche Flauheit in Paris, Frankfurt oder Kalkutta hervor. Die Länder fühlten
sich plötzlich solidarischer, als sie es je für möglich gehalten hatten. Es gibt keine
industrielle Gesellschaft, die sich auf ein Land beschränken könnte. Die Verästelung
der A. E. G. bietet ein hervorragendes Beispiel für diese mechanische, abstrakte und
internationale Ordnung, welche die Formen des modernen Lebens zutiefst erschüttert
hat. Aber in der Zwickmühle zwischen diesen beiden Aktionssphären, der natürlichen
und der mechanischen, mußte der Geist zwischen einer Beeinträchtigung des Herzens
oder der Intelligenz wählen. Die Gewohnheit führt ihn zurück zu der natürlichen
Ordnung: es ist leichter, schwach als unmenschlich zu sein.
II.
Man glaubt nur ein einziges Leben zu führen. In Wirklichkeit lebt man gleichzeitig
mehrere. Für jedes Land gibt es ein nationales und ein internationales Leben, die
übereinander liegen. Dem internationalen Leben, hat der Krieg schwere Wunden ge-
schlagen, während er dem nationalen Leben jegliche Freiheit zu wachsen und empor-
zuwuchern ließ. Auch nach dem Kriege hat dieses unter Ausnutzung des erworbenen
Vorteils die internationalen Wechselbeziehungen nicht wieder aufblühen lassen. Sie
führen nur ein verengtes Leben und vegetieren nur auf höchst klägliche Weise.
Man wendet auf den einen Teil die Entschlüsse des anderen an: daher leiden war an
einem wahren Mangel an Raum. Der Geist ist gezwungen, in Größenverhältnissen
zu denken, die mit sich selbst unvereinbar worden: ein einziges Land genügt nicht
mehr zur Entfaltung seines Aufschwunges.
Wenn wir jetzt das Problem unter dem Gesichtswinkel der Kunst betrachten, so be-
merken wir, daß der nationale (oder internationale) Charakter, dessen sich so viele
moderne Werke rühmen, in den Werken der Vergangenheit fast gar nicht oder doch
nur in einer unkenntlichen Form existiert. Daß Dante von heftigem politischen Haß
erfüllt war, daß Moliere die Zielscheibe höfischer Intriguen wurde, das wissen wir. Was
weder die „Göttliche Komödie“ noch den „Misanthrope“ zwingt, öffentlich zu be-
kunden, daß sie spezifisch italienisch oder französisch sind, ebenso wenig wie Mozart
sich für verpflichtet hielt, zwischen Österreich und Italien zu wählen. Die Werke der
Alten scheinen in einer Lebenssphäre zu atmen, die diese Unterscheidungen nicht kennt:
sie lehnen jede andere Klassifizierung als eine rein technische ab. Die Mittel sind ver-
schieden, der Zweck bleibt unverkennbar derselbe: Gott, die Gesellschaft oder dieses
denkende Wesen, das man Mensch nennt; daher beschäftigen sich die Kommentatoren
des Mittelalters oder der Renaissance mehr mit Aristoteles und dem heiligen
Thomas vonAquino und mehr damit, in Erfahrung zu bringen, aus welchem seelischem
 
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