Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Polska Akademia Umieje̜tności <Krakau> / Komisja Historii Sztuki [Hrsg.]; Polska Akademia Nauk <Warschau> / Oddział <Krakau> / Komisja Teorii i Historii Sztuki [Hrsg.]
Folia Historiae Artium — NS 19.2021

DOI Artikel:
Boesten-Stengel, Albert: Ein Bildnis der Claude de France?: Antike und Heraldik in Leonardos Dame mit Hermelin
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.59426#0061
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
60

Dell’umilità si vede somma sperienzia nello agnello il
quale si sottomette a ogni animale, e quando per cibo
son dati aU’incarcerati leoni, a quelli si sottomettano
come alla propria madre, in modo che spesse volte se
visto i lioni non li volere occidere.170
Das Lamm, das sich allen unterwirft, bezog Leonardo
aus den Fior di virtù, dem anonym um 1300 in Bolognesi-
scher Volkssprache verfaßten Florilegium zu den Tugen-
den und Lastern in antiker und christlicher Auslegung,
das in Abschriften weit verbreitet und in viele Sprachen
übersetzt wurde und von dem Leonardo selbst vor 1503
eine der in Italien bereits gedruckten Ausgaben171 erwor-
ben hatte:
E Puose apropriare e aseminare172 la uirtu de la humili-
ta alagnello: che lo piu humile animale che sia al mòdo:
e comporta tutto quello che ie uiè fatto: sottometädosi
a ciascuno: e pero e aseminato e apelato ne la sacra scri-
tura: al fiol de dio: digango173 Agnus dei & cetera:174
Das Lamm Gottes, unverzichtbar im christlichen Kon-
text, ersetzte Leonardo dann doch durch ein Exempel,
das durch zweimalige Sichtbarkeit bekräftigt wird: „si
vede somma sperienzia“ und „spesse volte se visto“. Aus
den Gliedern eben dieses Exempels, „per cibo son dati
[...] come alla propria madre [...] non li volere occidere“,
dem Lamm als Speise und der Mutter, die nicht will, dass
ihr Kind getötet wird, komponierte er dann den Anfang
der anekdotischen Bildhandlung, die Fra Pietro nach dem
noch unfertig skizzierten Entwurf beschreibt: „La mam-
ma [...] piglia el bambino per spicarlo dalo agnellino (ani-
male inmolatile) che significa la passione.“ In dem spä-
teren Gemälde hat der einige Monate ältere Knabe seine
erste Position auf dem Schoß der Mutter verlassen, um
das zu Füßen der Gruppe lagernde Lamm nicht nur an
sich zu drücken, sondern wie ein Reittier zu besteigen.
Annas Lächeln aber vertraut auf die genealogische Ver-
heißung vom gesegneten Sproß aus dem Stamm Jesse. In
dessen Reich würden Lamm und Löwe friedlich Zusam-
menleben und ein kleiner Junge würde sie führen. Hier zu

170 Paris, Institut de France, Ms H, fol. iir; hier zitiert nach der
Transkription bei A. Marinoni, Leonardo da Vinci, S. 101 (wie
Anm. 142). Meine Übersetzung: Von der Demut sieht man die
höchste Probe in dem Lamm, das sich jedem Tier unterwirft, und
wenn sie den gefangenen Löwen zur Nahrung gegeben werden,
denen sie sich wie der eigenen Mutter unterwerfen, wird auf diese
Weise oft gesehen, dass die Löwen sie nicht töten wollen.
171 Siehe A. Marinoni, Leonardo da Vinci, S. 242, Nr. 53, und 248
(wie Anm. 142).
172 Das Wort aseminare entspricht italienisch assomigliare, ähnlich
sein.
173 Das Wort digango entspricht italienisch dicendo, Gerundium von
dire, sagen.
174 Hier zitiert aus dem Kapitel XXXIII De la Humilita nach der
Ausgabe Comenda vna opera chiamata Fiore de virtude che
tracta de tutti iuitii humani [...]. Kolophon: Venesia: nel beretin
conuento, 1477, fol. Ьз recto.

zitieren sind die Verse des Isaias in der Version des Vene-
zianers Nicolo Malermi, wie sie durch eine der in Venedig
gedruckten Ausgaben Leonardo zur Verfügung standen:
Et uscirà de la radice di iesse la bacheta:
& ascenderà el fior de la radice:
[-]
habitara el lupo col agnello:
& dimorara el pardo col capreto:
el vitello: & el leone: & la pecora staranno in sieme:
& el picolino fanciullo guidara quelli.
[-]
Non nocerano & non occiderano in tuttol monte sancto
mio: perche rempiuta e la terra dela scientia del signo-
re [...].175
Bei aller Unsicherheit in der Abfolge der Alternati-
ven, die Leonardo erwog, scheint er in den ersten Jahren
des 16. Jahrhunderts im wesentlichen zwei Kompositio-
nen der Anna selbdritt ausgearbeitet zu haben, die unter-
schiedlichen Aufträgen oder Anlässen entsprochen haben
dürften, eine mit dem Johannesknaben176 und eine andere
mit dem Lamm177. Die ersten Zeilen eines undatierten, im
Original verschollenen Briefs des Kenners und Sammlers
Padre Sebastiano Resta (1635-1714) an Giampietro Bellori
nähren bis heute Vermutungen, wenigstens eine der Ver-
sionen sei originär für König Louis XII. bestimmt gewe-
sen.178 Wie im Fall des Schwans und des Hermelins käme
aus französischer Perspektive sicher dem Lamm der Vor-
zug zu. Jedenfalls entspricht die junge Dame mit Herme-
lin einem dieser drei verflochtenen Themen mit weißen

175 Biblia Vvlgare Istoriata, Venezia 1490, fol. EEi verso. - Nach Isaias
11, w. 1, 6 und 9 im Text der Biblia Vulgata.
176 Hierfür steht vor allem Leonardos Karton in der Londoner
National Gallery.
177 Hierfür steht vor allem das Gemälde im Louvre.
178 G.G. BoTTARi, Raccolta di lettere sulla pittura, scultura, ed archi-
tettura, Bd. 3, Roma 1759, S. 326-327, Nr. CC. Der Brief beginnt so
„Eccole sig. Giampietro le notizie, ch’ella desidera circa il mio car-
tone. Lodovico XII. re di Francia prima del 1500 ordinò un carto-
ne di s. Anna a Lionardo da Vinci dimorante in Milano al servi-
zio di Ludovico il Moro“. - Womit sogleich Anne de Bretagne und
der Anlaß, die Geburt ihrer Tochter Claude, assoziiert wurden -
J. Wasserman, The Dating and Patronage of Leonardo's Burlington
House Cartoon, „The Art Bulletin“, 53,1971, Nr. 3, S. 312-325, hier
S. 324; V. Delieuvin, Mélancolie et joie, in V. Delieuvin (Hrsg.),
Léonard de Vinci, S. 258-289 (wie Anm. 13). Beide, die heilige Anna
und der Täufer, wurden als Schutzheilige der Florentiner Republik
verehrt. Daher ist es vollkommen naheliegend, den Karton Leo-
nardos in der Londoner National Gallery mit dem Auftrag für das
Altarbild in dem neuen großen Ratssaal in Verbindung zu brin-
gen, für den Leonardo auch seine Schlacht bei Anghiari entwarf:
E. Villata, La Sant’Anna di Leonardo tra iconografia, documenti
e stile, „Iconographica. Studies in the History of Images“, 14, 2015,
S. 153-167, hier S. 160-163; hierzu auch A. Boesten-Stengel,
Leonardos da Vinci, S. 336-343 (wie Anm. 54).
 
Annotationen