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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — 21.1898

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Bénédite, Léonce; Glück, Gustav: Die französische Lithographie der Gegenwart und ihre Meister I, [1]: H. Fantin-Latour, H. Dillon, E. Carrière
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https://doi.org/10.11588/diglit.4070#0030
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selbst die widerspenstigsten Kritiker entwaffnet. Auch wer sonst die Richtung nicht gelten lässt, die
er in seinen Gemälden einschlägt, muss vor diesen Blättern Achtung haben; in Schwarz und Weiss
sind seine Werke über jeden Tadel und Widerspruch erhaben. Da Carriere gewohnt ist, mit seinem
Pinsel grosse Flächen zu überdecken, so hat er bis jetzt auch in seinen Lithographien nur Gegen-
stände von ziemlich grossen Massen dargestellt; es sind Porträts und Studien, fast immer in Lebens-
grösse oder nur wenig kleiner. Unter seinen Studien findet man Frauenköpfe, die alle untereinander
eine gewisse Verwandtschaft zeigen, durch einen Zug von tiefem innern Leben, von ernster
Zärtlichkeit, von schwerer Melancholie, hie und da auch von Resignation und Schmerz. In diesen
Werken spiegelt sich die Seele eines modernen Menschen, der die Schöpfungen Lionardos und Michel-
angelos gesehen und tief empfunden hat; die grosse Sicherheit seiner Zeichnung, die wie die
eines Bildhauers in grossen Flächen modellirt, trägt noch dazu bei, jene grossen Erinnerungen in
uns zu erwecken. Seine erste Lithographie war der Kopf eines Kindes, den er im Jahre 1890 auf
der Ausstellung der Peintres-Graveurs in der Durand-Ruel'schen Gallerie ausstellte. Darauf folgte
der Kopf eines jungen Mädchens, in voller Ansicht, der in L'Epreuve erschienen ist; es ist das
Bildnis einer seiner Töchter aus dem Bilde »die Familie«, das sich im Musee du Luxembourg
befindet. Lächelnd und räthselhaft erscheint der Kopf hell auf dunkelm Grunde, wie ein nächtliches
Phantom. Es erhöht noch den fremdartigen Reiz dieses Werkes, dass durch den mangelhaften
Abdruck selbst die Gesichtszüge verwischt erscheinen; denn der Druck der ersten Blätter Hess, da
der Künstler noch nicht alle technischen Mittel beherrschte, keinen etwas kräftigeren Ton bestehen.
Das Blatt ist auch dadurch merkwürdig, dass es neben dem unsicheren Tasten des Anfängers
schon die Arbeitsweise des Meisters erkennen lässt: auf dunkelm, breit angelegten Grunde werden
die dunkelsten Töne durch Übergehen mit dem Pinsel erzeugt, die Lichter und Halbtöne aber mit
einer Nadel, einer Metallbürste oder vielleicht auch mit Glaspapier herausgenommen.
Unter den Köpfen dieser Art ist einer seiner schönsten der einer Frau, in voller Ansicht, etwas
nach vorne geneigt, der kühn und breit modellirt sich in dem dunkeln Grunde verliert. Es ist das
Antlitz der Mutter aus demselben Bilde der Familie des Luxembourg, ein nachdenklicher, schwer-
müthiger Kopf von grosser ausdrucksvoller Schönheit. Hier haben wir nicht mehr das Bildnis einer
einzelnen Persönlichkeit vor uns, nicht mehr die blosse Wiedergabe individueller Gesichtszüge,
sondern ihre Verallgemeinerung, ihren idealen Typus. Ohne dass literarische Ideen oder Über-
treibungen des Stils zu Hilfe genommen werden, erweitert sich, durch die erhöhte Auffassung des
Modells allein, der Gegenstand von selbst, das Bild der Mutter wird uns zu dem der Mutterliebe.
In diese Reihe gehört auch ein schöner weiblicher Kopf, im Profil nach rechts, die Augen
schmerzlich zu ergebenem Gebete gesenkt, ein kleines Blatt, das die Zeitschrift L'Artiste
veröffentlicht hat, und das ausdrucksvolle Antlitz einer Frau, in Lebensgrösse und in Dreiviertel-
ansicht, das im Album des Peintres-Lithographes erschienen ist.
Ausser diesen Studien enthält das lithographische Werk Eugene Carrieres nur noch eine Reihe
von fünf oder sechs Bildnissen. Es sind die AlphonseDaudets, Verlaines, Rocheforts, Edmond
de Goncourts und Rodins. Die merkwürdigsten unter den Köpfen, die er in Lebensgrösse, meist
in voller Ansicht dargestellt und alle in dem gleichen verallgemeinernden Stil aufgefasst hat, sind
sowohl an Kraft des psychologischen Ausdrucks, als auch an Vorzüglichkeit der rein lithogra-
phischen Arbeit unzweifelhaft die Bildnisse Daudets und Verlaines. Schon das Gemälde, worin er
Daudet neben seinem Töchterchen gemalt hat, das sich zärtlich an ihn anschmiegt, galt als eine
seiner schönsten Arbeiten, als eines der Bildnisse, in denen er am glücklichsten den Ausdruck inneren
Lebens wiedergegeben hat. Der Erfolg dieses Vorwurfes hat ihn auch bei der Lithographie, worin
 
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