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Calvert wurde 1799 zu Appledarc, einem Dorfe an der Küste von Devonshire, geboren und
wuchs auf in Cornwall. Mit fünfzehn Jahren kam er zur Marine, machte einige Kämpfe mit und
diente mit nicht gewöhnlicher Auszeichnung. Aber der Trieb zur Kunst war zu stark in ihm, und
mit einundzwanzig Jahren gab er seinen Beruf auf und liess sich als Maler zu Plymouth nieder,
begab sich jedoch bald nach London, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Sein Lebensweg
führte ihn frühzeitig mit Blake zusammen, und unter dessen Einfluss schuf er einige ausserordentliche
kleine Holzschnitte, Kupferstiche und Lithographien. Sie sind jetzt ungemein selten, da die Stöcke
und Platten zumeist zerstört wurden. Wie es nach den Reproductionen den Anschein hat, verrathen
diese Arbeiten eine zartere und wesentlich künstlerischere Begabung als jene Blakes. 1844 besuchte
Calvert allein Griechenland, dessen Kunst in der That die Hauptquelle seiner ganzen Inspiration
war. Selten ist ein moderner Mensch von so wahrhaft griechischem Geist durchdrungen gewesen
wie dieser Engländer. Er hatte das sonnige Temperament und die Freudigkeit, welche einen so
grossen Theil der hellenischen Anmut ausmachen, »und scheint wirklich den classischen Geist
Arkadiens als seine Heimatluft zu athmen«. Es war in dieser Periode seines Lebens, dass er über die
Geheimnisse des Colorits zu grübeln begann, über welche er einige fragmentarische Abhandlungen
schrieb. Betroffen von der allgemeinen Planlosigkeit der Künstler auf diesem Gebiete und von dem
Mangel an irgendwelchen bekannten Gesetzen des Colorits, strebte er darnach, ein solches System
zu entdecken, wie es die Musiker für die Rhythmen gefunden haben; und wenn er seinen Ideen
Ausdruck lieh, pflegte er für die verschiedenen »Stimmungen« des Colorits musikalische Termini
zu gebrauchen. Bei seinen eigenen Werken beschränkte und überwachte er eifrig seine Palette,
und sicherlich erzielte er innerhalb der gewählten Grenzen einen wunderbaren Erfolg. Es sind nur
ein oder zwei vollendete Gemälde Calverts bekannt, das schönste befindet sich zu London im
Privatbesitz. Es ist eine oblonge Composition von aussergewöhnlicher poetischer Schönheit,
Arcadian shepherds moving their flocks at dawn, eine Schar von Schäfern, die mit ihren
Herden und Karren im goldenen Frühlicht die Bergeshöhen entlang ziehen. Aber die meisten seiner
erhaltenen Werke bestehen aus Zeichnungen oder Skizzen in Ölfarben auf Cartonpapier, idyllische
Träume vom goldenen Zeitalter. Diese lieblichen Phantasien stehen in der modernen Kunst einzig
da, wenn sie auch dann und wann an die idyllischen Gemälde von Fantin-Latour erinnern. Infolge
ihres heiteren und jungfräulichen Wesens könnten sie auch Anspruch auf die Urverwandtschaft
mit den grossartigen und heroisch gedachten Compositionen von Puvis de Chavannes machen.
Calvert kannte, glaube ich, die Werke keines dieser beiden Künstler und war in der That ganz
ungewöhnlich originell. Vollendete, grosszügige Gemälde hervorzubringen, gieng über seine Kräfte,
und niemals stachelten die Umstände seinen Ehrgeiz an; aber selbst mit seinen schlichten Werken
bleibt er einer von den ehrlichst begeisterten und poetischesten Künstlern Englands und besitzt,
was vielen grösseren Meistern fehlt, — den Zauber einer nicht mitzuteilenden Anmut.

Laurence Binyon.

William Blake. Nach dem Originalholzschnitt
zu Thorntons »Pastoral«.
 
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