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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — 31.1908

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Hind, Arthur Mayger: Camille Pissarros graphische Arbeiten: Seine Radierungen, Lithographien und Monotypen und Lusien Pissarros Holzschnitte nach seines Vaters Zeichnungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4232#0058
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Sujets sind die beiden großen Pendants von 1891, der Marche aux Legumes (Z., 253:200) und
der Marche ä la Volaille (Z.). Auf ersterem Blatte zeigt eine Gruppe des Vordergrundes deutlich
eine Eigenart von Pissarros Kunst: er schildert nämlich mit Hilfe einer Körperbewegung lebendiger
als mit Hilfe des Gesichtsausdrucks. Das Weib, das nach rückwärts gekehrt ihre Kohlköpfe an-
bietet, wirkt drastischer, hat weit mehr Leben in sich als eine von jenen, deren Antlitz dem Beschauer
zugewendet ist.

Ein anderer ähnlicher Vorwurf, der Marche de Gisors (200: 137, einschließlich des Randes),
ist eines von den drei Beispielen für Pissarros farbige Radierungen. Für jede Farbe ist eine Platte
verwendet, eigentlich die richtige Methode farbigen Druckes, weil sie die geringsten Veränderungen
zuläßt, und jede Farblinie ist in die Platte eingeätzt. Vom Künstler selbst wurden nur wenige Ab-
züge genommen, und wenn auch Lucien Pissarro die Schwierigkeit zugesteht, genau die Farbstoffe
zu bekommen, die sein Vater haben wollte, so ist doch so wenig dem Zufall überlassen, daß neue
Drucke in ihrer Harmonie ebenso schön wie die alten sind. Wir können die Radierung nicht als
Ganzes loben, da die Zeichnung des Vordergrundes etwas verworren ist, aber die Komposition ist
gut, und der Hintergrund allein ist ein Bild von großer Schönheit.

Die beiden anderen farbigen Radierungen sind die Paysanne ä l'Herbe und die Baigneuse
gardeuse d'Oies (118:179, einschließlich des Randes), für welche wie auf dem Marche de
Gisors vier Platten verwendet wurden. Auf allen drei Blättern herrscht glänzendes Gelb vor,
Orangerot und Blau sind abgesehen von Schwarz die anderen beiden Farben, und durch Kombi-
nation sind zarte Schattierungen hervorgebracht, die von Grün bis zu Purpur und Braun wechseln.

Meiner Empfindung nach ist in den meisten Fällen die farbige Radierung (besonders von einer
einzigen Platte) eine zu unsichere Kunst, um viel Wert zu besitzen, aber ich muß gestehen, daß
mich kein anderes Blatt so stark angesprochen hat wie die Paysanne ä l'Herbe. Es ist die
friedvolle Darstellung eines Stückes sonnbeleuchteter Natur gerade so wie irgend eines von des
Meisters Gemälden. Die Baigneuse gardeuse d'Oies ist charakteristisch als Beispiel streng
impressionistischer Farbenwiedergabe. Nur jemand aus der Schule konnte diese gebrochenen
Reflexe glänzenden Lichtes im Wasser, diese malvenfarbigen und purpurnen Tinten im Schatten
wiedergeben. Die drei farbigen Platten gehören wahrscheinlich in das letzte Jahrzehnt des XIX. Jahr-
hunderts, aber gerade aus dieser Periode von seines Vaters Leben besitzt Lucien die wenigsten
sicheren Daten. Die Baigneuse kann kaum einer früheren Zeit angehören. Und während der letzten
zehn Jahre entwarf Camille die zahlreichen Aktstudien in der Landschaft, die durch die Baigneuse
aux Oies (127 :175) gut vertreten werden. Sie zeigt alle seine Fehler, im einzelnen einen gewissen
Hang zu sinnlosem Baumschlag, und die Übertreibung vermischter Technik (z. B. die zerschlissene
Ätzung auf den Gänsen), aber sie besitzt vorzügliche Eigenschaften. Die weibliche Gestalt ist
einer seiner gelungensten Akte, und das Spiel des Lichtes ist mit vollstem Verständnis wiedergegeben.

Unter seinen Radierungen finden sich nur zwei Porträte, aber sie sind beide von großem
persönlichen Interesse. Das von Cezanne von 1874 (K., 215:270)' ist eine glückliche Erinnerung
an die Jahre der Freundschaft und wechselseitigen Einflusses zwischen den beiden Künstlern, die
in den Nachbarstädtchen Auvers und Pontoise lebten.

Das Selbstbildnis (187:177), das wahrscheinlich um 1891 anzusetzen sein wird, ist eine
weit vollendetere Platte, aber nicht weniger packend im Ausdruck. Es gibt wenige Künstler außer
Rembrandt, die im engschraffierten Porträt nicht fehlgeschossen haben, und diese Platte muß zu den
Treffern zählen. Dieses ruhige Antlitz, das einen Geist voll Einfachheit und Geradheit im Wollen

1 Eine kleine Reproduktion in Durets Impressionistes, pag. 62.

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