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Heinrich Ehmsen, Illustration zu Gerhart Hauptmanns Emanuel Quint (V. Kapitel).

Radierung. 1027

Ereignisse rasch zu
historischen Gescheh-
nissen abblassen; der
Bruderkampf zwischen
Mensch und Mensch
ist ihm unabschüttel-
barer Alpdruck, Stra-
ßenkämpfe und Exe-
kutionen erfüllen seine
Phantasie, das Grü-
beln über Wurzeln
und Wirkung solcher
mörderischer Tollheit
führt ihn zu Irrenhaus-
studien; auch wenn
er ins lärmende Ver-
gnügen der Großstadt
flüchtet, wird er die
grauenvollen Visionen
nicht los, aus der
fleischlichen Üppigkeit
des Kabaretts und den

Orgien physischer Kraft im Boxring grinsen ihm die Gespenster des Menschheitselends entgegen.
Ehmsen sieht Elend und Gemeinheit, Ekelhaftes und Empörendes nicht wie ein Politiker, sondern wie
ein Künstler; unendlich mitfühlend, verstehend und verzeihend, ohne den Kompromiß, zu dem die
Praxis des Lebens die meisten von uns in diesen neun Jahren mehr oder weniger gebrochen hat, mit
der ganzen Unbedingtheit eines im Empfindungsreich unbeirrbaren Künstlers. Sein Mitleid für eine
sich in Torheit und Grausamkeit zerfleischende Menschheit ist durch die grauen Schwaden dieser
letzten Jahre nicht getrübt; er kämpft für die Echtheit seiner Empfindung, nicht parteipolitisch,
sondern aus dieser Empfindung heraus schaffend — wie der Dichter von »Hoppla, wir leben!«.

Diese geistige Grundstimmung verleiht den Radierungen den eindringlichen hohen Ernst: aus
jedem Thema sucht Ehmsen das Maximum an geistigem Gehalt und seelischer Stimmung heraus-
zuholen. Es ist interessant, an den verschiedenen Zuständen seiner Blätter dieses Dichterwerden zu
beobachten; manche Bildidee hat tiefe Wandlungen durchgemacht, ehe sie ihre letzte Fassung
erreichte. Die technischen Ausdrucksmittel sind sehr reich und greifen mit der starken Einfärbung
der Platten über das rein Graphische hinaus; durch Kombinierung der Verfahren und Einarbeiten mit
starken Gegensätzen von Schwärzen und Helligkeiten wird eine malerische Wirkung angestrebt
und erreicht. Wie im technischen ist Ehmsen auch im formalen Ausdruck undogmatisch; es wäre
schwer, ihn in eine »Richtung« einzuzwängen und sogar seine besondere Art durch Vergleichung
mit anderen Künstlern zu charakterisieren. In den Massenszenen erscheint er bisweilen James Ensor
verwandt, in den Einzelgestalten Max Beckmann, beiden gegenüber ist er realer, seine Phantastik
steckt ganz in der grotesken oder erschütternden Wirklichkeit. Dadurch macht er seine Gesichte
glaubhaft; man kann sich von ihnen nicht ins Ästhetische flüchten, man fühlt hinter ihnen das, was
stärker und wichtiger ist: Wirklichkeit, empfundenes und dadurch in künstlerisches Leben gebrachtes

Dasein unserer Zeit. Hans Tietze.

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