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Die Familie Lendecke stammt wahrscheinlich vom Niederrhein, ist jedoch schon zu Beginn
des XVIII. Jahrhunderts in Potsdam nachweisbar, wo sie das Seidenwirkergewerbe ausübte.
Friedrich Wilhelm Lendecke (geb. Potsdam 1751) übersiedelte nach Hamburg, ergriff dort
das Schlosserhandwerk und wurde der Vater jenes Johann Heinrich Wilhelm Lendecke,
der als französischer Grenadier aus .Magdeburg desertierte und sich anno 1812 im Alter von
22 Jahren als Kaufmann in Prag etablierte. Er wurde der Begründer der österreichischen Linie
der Lendecke und starb 1870 als wohlhabender Zuckerfabrikant auf seiner Besitzung Rokoska.
Sein Enkel Otto Heinrich Moritz Lendecke (geb. 1847)1 widmete sich nach Absolvierung der
Technik dem Bahndienste, kam als Oberingenieur der Carl-Ludwig-Bahn nach Lemberg und ver-
mählte sich dort am S.Oktober 1881 mit Maria Caroline, derTochter des k.k.Hofrates Dr. Gustav
Hailig Ritter von Hailingen, dessen Vorfahren unter Josef II. als württembergische Kolonisten
in Galizien eingewandert waren. Als drittes Kind2 aus dieser Ehe erblickte Otto Friedrich Carl
Lendecke, der spätere Maler, am 4. Mai 1886 in Lemberg das Licht der Welt.

Die Eltern waren von sehr verschiedener Charakteranlage. Der Vater, ein strenger, etwas
pedantischer Mann von vorwiegend pessimistischerLebensauffassung, hatte, obwohl er als Zögling des
Stoyschen Instituts in Jena in den Jahren 1861 bis 1865 mit dem nachmaligen berühmten Bildhauer
Adolf Hi ld ebrand auf derselben Schulbank saß und damals als der beste Zeichner der Klasse galt, für
Kunst im Grunde nicht viel übrig, weshalb er auch den früh hervortretenden künstlerischen Fähig-
keiten seines Sohnes nicht jene Förderung angedeihen ließ, die sie verdient hätten. Die Mutter, eine
feingebildete und herzensgute Frau, hatte ihren unverwüstlichen Optimismus und ihren sicheren
Takt in allen Geschmacksfragen wohl auf ihren Sohn übertragen, allein als eine mehr passive denn
aktive Natur konnte sie auf die Erziehung ihres »Ottusz«, wie sie den kleinen Otto von Lemberg
her nannte, nur geringen Einfluß ausüben. Der väterliche Wille überwog und zeigte sich von nicht
gerade günstiger Wirkung.

Im Jahre 1892 wurde Oberingenieur Lendecke anläßlich der Verstaatlichung der Carl-Ludwig-
Bahn als Inspektor zur Generaldirektion der Staatsbahnen nach Wien berufen, was die Über-
siedlung der ganzen Familie in die Residenz zur Folge hatte. Im April 1892 bezog man eine
geräumige Wohnung in der Schmalzhofgasse 13 und noch im selben Jahre trat Klein-Otto als
Abcschütze in die Klasse des Herrn Enselein in der Stumpergasse ein. Auffallendes Talent im
Zeichnen und Deklamieren, aber auch allerlei tolle Streiche machten den ungewöhnlich aufgeweckten
Knaben bald zu einer Art Schulberühmtheit, woraus den Eltern freilich mehr Sorge als Freude
erwuchs. Als darum der Übertritt in die Mittelschule erwogen wurde, hielt der Vater eine Orts-
veränderung für angezeigt und schickte Otto — wohl im Hinblick auf eine in Meran lebende Tante —
ans dortige Benediktinergymnasium. Vom 15. September 1896 bis zum 15. Juli 1898 besuchte
Lendecke diese Anstalt; unter welchen seelischen Qualen, ersehen wir aus einem Briefe, den er
— viele Jahre später — am 19. April 1912 aus Paris an jene erwähnte Tante (Frau Ella Groß)
richtete. »Liebe Tante«, bekennt er darin, »ich war ein armer Teufel und Du warst mein guter
Genius. Immer wenn ich in Liebe an Dich denke, fällt mir die Zeit ein, als ich — ein Gymnasiast —
in dem beengenden Kloster saß und anstatt zu lernen, einen Sonntag träumte, an dem ich — heraus-
gebeten — unter Euch sein durfte. Wie schön waren diese Sonntage —- ach wie schrecklich war
es dann, um 5 Uhr nachmittag zurückzukehren zu den schwarzen Lehrern und den bäuerlichen
Schülern, mit sechs Indianerkrapfen unter dem Arm als Trost leichter die Schwelle der Hölle zu

1 Er starb als Oberbaurat i. P. am 10. Juli 1925 in Krems. — - Lendecke hatte zwei Schwestern: Marie Luise (nachmals Frau
Hernried) und Hedwig Angelika, sowie einen Bruder Alfred Gustav Adolf, der im Kriege schwer verwundet wurde.

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