Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Jahrtausend. Träger der - - mit dem Wort byzantinisch nicht erschöpfend ausgedrückten — Kunst-
anschauung waren die Fürsten und Priester und sind es durch alle Wandlungen des Staates
geblieben. So versinnlichte die byzantinische Kunst für den Russen gleichzeitig die Mächte des
Glaubens und der irdischen Herrschaft. Sie kam vom Süden und legte ihren Mantel von goldener
Pracht über die karge Natur des Landes. Rußland ohne Kuppelkirchen — undenkbar! Und doch liegt
unter der eingebürgerten Schicht des Byzantinischen noch eine tiefere, aus heidnischer Vorzeit

W. Faworskij, Bürgerkrieg. Holzschnitt. 1928.

stammende Kunstgesinnung: die der russischen Volkskunst. Auch sie hat die Wechselfälle des
nationalen Schicksals überdauert. Sie ist ihrem Wesen nach nordisch. Ihr Material ist das Holz
des nordrussischen Waldgürtels, ihre Ausdrucksform das Ornament, ihr Charakter phantastisch,
üppig, blutwarm und heiter.

Die Geschichte der russischen Kunst enthält zahllose Beispiele der Auseinandersetzung
zwischen Volkskunst und Kirchenkunst. Die russischen Ikonen entlehnten ihre eigentümlich
dekorativen, reinen Farben der Volkskunst, und die Volkskunst schöpfte aus dem Vorstellungs-
gehalt der christlichen Gestaltenwelt. In der Buchmalerei traf der Ikonenstil der Illustrationen mit
der volkstümlichen Ornamentik unmittelbar zusammen, und es ist sehr erklärlich, wenn die spätere
Buchgraphik in gewissem Sinne die Erbschaft der mönchischen Schreibstuben antrat. Der Buchdruck
ist spät nach Rußland gekommen. Seine ersten Erzeugnisse, Evangelien, ahmten die Schrift und
Ornamentik der russischen Buchmaler nach. Bald jedoch kamen mit den westeuropäischen
Typographen auch die Renaissanceformen der westeuropäischen Typographie auf. Allerdings ver-
wandelten sie sich unter den Händen der russischen Adepten. Die Ornamentrahmen büßten ihre
Plastik ein und durchsetzten sich mit den flächenhaften Ziergliedern der russischen Muster, und die
Evangelisten auf den Titelblättern wurden zu seltsamen Mischwesen aus byzantinischer Über-
lieferung und Renaissancevorbildern. Erst die Epoche Peters des Großen machte Ernst mit der

2
 
Annotationen