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Radierungen zu Baudelaires »Fleurs du Mal«1 wird 1928 mit einem Raffinement, das an Felicien Rops,
manchmal aber auch an den jungen Egon Schiele erinnert, abermals weibliche Sündhaftigkeit
geschildert, doch sind bereits einige Ansätze zur kommenden Änderung der Geschmacksrichtung
vorhanden. Die Illustrationen zu Armand Godoy's »Colloque de la Joie« und »Le Drame de la
Passion« sowie zu Edgar A. Poe's »Le Corbeau«1 habe ich leider nicht zu Gesicht bekommen, aber
in den 12 Lithographien zu Lukians »Hetärengesprächen«3 ist alles Krankhaft-Nervöse endgültig
abgestreift, erweist sich übrigens auch die mit größtem Geschick zur Anwendung gebrachte Technik
der Steinzeichnung als das geeignetste Ausdrucksmittel für die malerisch und graphisch gleich
hochbegabte Künstlerin, die jetzt nach mancherlei Umwegen zu einem absolut individuellen, Pariser
Esprit mit Wiener Charme verbindenden Stil gelangt ist. Zwanzig Jahre vorher hatte sich diese
glückliche Mischung — auf dem Gebiet der Modezeichnung — bei Otto Lendecke aufs beste bewährt.
Mariette Lydis erschließt uns nunmehr eine andere Welt: die Welt des halb unschuldigen, halb
wissenden kindhaften Mädchens, zu der sie als Frau leichten Zugang findet, die sie aber dennoch
mit fast männlichen Augen sieht. Erblühten schon aus der schwülen Atmosphäre der Lukianischen
Dialoge so entzückend frische Gestalten wie die reizende Mädchenfigur aus dem »Dialogue de
Tryphene et de Charmide«, so stellen die 8 Lithographien zu Henry de Montherlants schönem Buche
»Le Chant des Amazones«* geradezu einen Dithyrambus auf das gesunde junge Weib dar. Die
modernen Amazonen sind nicht so kriegerisch gesinnt wie ihre Schwestern im Altertum, aber auch
sie sind in allen körperlichen Fertigkeiten bewandert, denn sie haben sich dem Sport geweiht und
kämpfen im Stadion um den Siegespreis im Laufen, Reiten und Fechten. Ein weiter Abstand trennt
diese munteren kleinen Amazonen von den »Lesbiennes«, »Criminelles« und »Fleurs du Mal«,
und diese Distanz zwischen dem Pathologischen und Kerngesunden kennzeichnet auch den Weg,
den die Kunst Mariette Lydis' im letzten Halbjahrzehnt zurückgelegt hat. Von ihrem jüngsten Oeuvre,
14 farbigen Lithographien zu Ovids »Ars amandi«,5 hat uns der Verlag G. Govone in entgegen-
kommender Weise mehrere Probedrucke zur Ansicht übermittelt. Sie zeigen technisch und stilistisch
wieder vielfache Fortschritte. Der Vortrag ist noch breiter und malerischer geworden, die Formen sind
oft ganz groß gesehen, zuweilen auch im Sinne des »Ingrismus« vereinfacht. In jedem Falle sind auch
die Ovid-Zeichnungen ein beredtes Zeugnis für die rastlose Energie, mit der unsere Künstlerin an
der Vervollkommnung ihres graphischen Stiles arbeitet, dem auch schon ein recht stattliches Mal-
werk6 gegenübersteht, das an anderm Orte zu würdigen wäre. In Wien hat Mariette Lydis gleich
bei ihrem Debüt in der XV. Jahresausstellung der Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs
(September 1929) allgemeines Aufsehen erregt, und ihre Beteiligung an den Ausstellungen »Wie
sieht die Frau?« (Mai 1930), »Zwei Jahrhunderte Kunst der Frau in Österreich« (Juni 1930) und
»Ausstellung der Vereinigung berufstätiger Frauen« (Sommer 1931) hat ihren Ruf als einer der
interessantesten Künstlerinnen der Gegenwart nur noch mehr befestigt.

Hans Ankwicz- Kleehoven.

1 Dix eaux fortes pour illustrer Les Fleurs du Mal, Paris, G. Govone, 1928. — Sämtlich bei Emile Paul, Paris, 192S/29. — 3 Lucien
de Samosate. Dialogues des Courtisanes, Paris, G. Govone, MCMXXX. — 4 Paris, G. Govone, MCMXXXI. — '■> Ovide. L'Art d'aimer. Texte latin
etabli et traduit par Henri Bornecque pour la Collection Guillaume Bude. — <s Gemälde der Künstlerin haben bereits im Musee du Luxembourg
in Paris sowie im Städtischen Museum zu Manchester, Zeichnungen und Lithographien u. a. in der Graphischen Abteilung der Uffizien in
Florenz Aufnahme gefunden.

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