58
GOLDSCHMIDT
io6a-e. KASTEN MIT SCHIEBEDECKEL. TAFEL LXI
Tiere.
XII. J ah r h und er t.
Paris, Musee de Cluny (Inv. i3y4)-
Höhe 10 cm, Länge 35 cm, Breite i4cm. Der Kasten ist neu bis auf sechs der
Tierplatten, die Fragmente eines echten byzantinischen Kastens sind. Da diese trotz
einer verstreuten Anordnung nicht ausreichten, um einen neuen Kasten aus ihnen
zu machen, sind noch einige Tierplatten hinzu gefälscht worden. Sie sind leicht
erkennbar, da sie durch ihre Größe und geschwungenen Formen von den übrigen
sich abheben. Es handelt sich bei den Fälschungen um beide Platten der Kurz-
seiten und die mittleren Platten der Langseiten. Zum Teil fehlt ihnen der Rahmen
oder, wo er teilweise gegeben ist wie bei dem Pfau (b), bricht er plötzlich ab, um
Platz zu schaffen für den Schwanz des Tieres. Die moderne Marquetterie-Arbeit
in Holz und Elfenbein lehnt sich offensichtlich an einen alten Kasten an, wie der
eingelegte Rosettenfries des Deckels und der vereinfachte Palmettenfries am äu-
ßersten Deckelrande zeigen. Alter Bestand sind also nur die zwei Deckelplatten
und die zwei äußeren Platten einer jeden Langseite. Aus der Collection Germeau
(Nr. 119).
Auf dem Deckel (a) sind ein sich umblickender Löwengreif und
ein schreitender Löwe mit heraushängender Zunge dargestellt.
Die Vorderseite (b) zeigt links einen schreitenden Greifen und als
Gegenstück einen Löwengreifen mit Pfauenschwanz. Man hat den
Eindruck, als ob diese Kombination von Greif und Pfau vom
Schnitzer erfunden und nicht ganz gelöst sei, da durch den Fort-
fall der Hinterbeine ein leerer Raum entsteht, der die ornamentale
Ausgewogenheit der Platte stört. Dieser Löwen-Greifen-Pfau bildet
das Gegenstück zu dem, der sich jetzt auf der linken Platte der Rück-
seite (c) befindet. Die rechte Platte dieser Seite c zeigt einen Pfau.
Stilistisch zeigt der Löwe des Deckels eine unmittelbare Verwandt-
schaft mit den Löwen des Gespannes auf dem Kasten Nr. 43 (a),
wodurch sich dieser Kasten unmittelbar an jene späteren profanen
Kästen anschließt. Auf die Tierdarstellungen der Langseiten haben
sassanidische Vorbilder eingewirkt (vgl.dieZusammenfassungS. 20).
Literatur: Westwood, Fictile Ivories 1876, S. 4'0. Schneider, Serta Harteliana,
1896, Nr. 27. Graeven im Österr. Jahrb. XX, 1899, Nr. 47-
1 07 a—e. KASTEN. TAFEL LXII, LXI1I
Stilisierte Tiere.
XII. Jahrhundert.
Würzburg, D o m s c h a t z.
Höhe 14,6 cm, Länge 26,7 cm, Breite I 8,4 cm. Der Kasten hat seine ursprüng-
liche Gestalt eingebüßt. Becker (a. a. O.) hat ihn in der „Ornatkammer des Domes
teilweise zertrümmert aufgefunden und zusammengesetzt“. Über die ursprüng-
liche Form des Kastens, ob er einen Pyramidenstumpf- oder einen Schiebedeckel
besessen hat, läßt sich nichts mehr vermuten. Weder Deckel noch Langseiten
zeigen den ursprünglichen Zustand, da eine völlige Willkür in der Verteilung
der Ornamentstreifen, solcher mit einfachen Rautenrosetten und solcher mit
Rosettenwechsel, herrscht und auch die Platten nicht mehr ihre ursprüngliche
Stelle einnehmen. So hat z. B. der Pfau der Rückseite (c) sicher mit dem der Seite e
auf einer Seite gesessen. Das Stück Palmettenfries der Seite e gehört zu einem
Deckel fries. ImCzartoryski-Museum in Krakau (Meisterwerke muhammedanischer
Kunst, München 1910, Taf. 1 24) befindet sich ein getriebener Silberkasten, der die
Platten des Würzburger Kastens peinlich genau wiederholt und einen Pyramiden-
stumpfdeckel zeigt. Dieser Kasten kann aber nicht zur Rekonstruktion des Würz-
burger herangezogen werden, da der Silberkasten offensichtlich nach dem
Würzburger gearbeitet ist. Als der Kopist den Silberkasten vergrößerte und zur
Füllung einer Langseite die Motive zweier Elfenbeinseiten benutzte, blieb ihm
für die zweite Langseite nichts übrig, als den Typenschatz noch einmal wörtlich
zu wiederholen. Die erhaltenen Platten und Streifen zeigen eine sehr gute Erhal-
tung. Auf einigen Tieren und Rosetten befinden sich Goldspuren und dunklere
Stellen, die gleichfalls auf die ehemalige Vergoldung hinweisen. Deckelgriff und
Scharniere sind noch aus romanischer Zeit, wenn auch nicht die ursprünglichen
des Kastens.
Die Vorderseite (b) zeigt zwei sich umblickende Sirenen und unter
dem Schloß einen Kentauren, der in der erhobenen Rechten eine
Lanze hält. Der Gegenstand in der Linken ist vielleicht als Rest
eines Bogens zu deuten. Zweimal (c, d) kommen Reh und Hirsch
einander zugekehrt vor, die an Bäumen fressen, das eine Mal gerade-
aus blickend, das zweite Mal sich umwendend. Bei dem Pfauenpaar
(c, e) ist durch die Aufteilung in zwei Platten das in der frühchrist-
lichen Kunst übliche Vasenmotiv verlorengegangen, weshalb sie
gleich den Rehen an Bäumen picken. Der Adler, der einen Hasen
in den Krallen hält (e), erfordert offensichtlich ein Gegenstück
(vgl. Nr. 56b, c). Von den drei Deckelplatten stellt die linke einen
schreitenden Löwen dar mit einem Schaf im Maule (den langen
Ohren nach zu urteilen), die rechte einen Löwengreifen mit einem
Fiel) im Maule. Die Mittelplatte ist eine phantastische V ariation des
Löwengreifen mit Pfauenschwanz (vgl. Nr. 106 b, c). Dieser Pfauen-
schwanz ist in einen Drachenschwanz mit Kopf umgebildet, doch
zeigt er noch die stilisierten Pfauenfedern. In der Art der Stilisierung
macht sich ein starker sassanidischer Einfluß geltend. Ein Vergleich
des Pfauenpaares mit einer persischen Silberkanne (Abb. 28) zeigt,
Abb. 28. Persische Silberkanne.
daß eine der Toreutik eigentümliche Art der Fiederung zwar über-
nommen, die Stilisierung auf dem Elfenbein aber nicht konsequent
durchgeführt ist, da der Pfauenkopf naturalistisch bleibt. Die Lö-
wen des Deckels (a) mit der mandelförmigen Markierung des Schen-
kels zeigen ebenfalls den sassanidischen Einfluß sehr deutlich.
Die Ornamentik besteht aus Rosettenstreifen mit einfachen Rauten-
rosetten oder im Wechsel mit Blattrosetten, die jetzt willkürlich
verteilt sind. Nur zwei Deckelstreifen zeigen üppigere Füllrosetten.
Mit dem Adam-und-Eva-Kasten Nr. 67 hat der Kasten die beiden
Baumformen, die stilisierten Palmen der Rehplatten und die stili-
sierten Bäume der Pfauenplatten mit den sich abzweigenden herab-
hängenden Voluten gemeinsam. Die Köpfe der Sirenen und des
Kentauren (b) zeigen einen Zusammenhang mit den Köpfen der
Figuren auf den Josephs-Platten (vgl. Nr. 96) in ihrer runden Form
und ihrer perückenartigen Haarbehandlung. Auch die Art der
zylindrischen Körperbildung der einzelnen Gliedmaßen macht
einen ähnlichen tektonischen Eindruck wie bei jenen Figuren der
Josephs-Geschichte.
Literatur: Becker und Hefner, Kunstwerke und Gerätschaften des Mittelalters I,
i852, S. 88/89, Taf. 71- Sighart, Geschichte der bildenden Künste in Bayern 1862,
8. 116. Westwood, Fictile Ivories 1876, S. 4Graeven im Preuß. Jahrb. XVIII,
1897, S. 4, Nr. 7 und im Österr. Jahrb. XX, 1899, Nr. 87. Stephani, Der älteste
deutsche Wohnbau Bd. II, to3, S. 621, Fig. 3g5—402-
108. PLATTE EINES KASTENS. TAFEL LXIV
Greifenpfau.
XII. Jahrhundert.
London, Victoria & Albert Museum (A 74. 1925).
Höhe 6 cm, Breite 5 cm. Auf dem Rande und dem Relief Löcher zur Befestigung
auf einen Holzkern. Auf dem Schwanz und dem Flügel Reste von Vergoldung.
Sneyd Collection, McAndrew Collection.
Ein Greif mit einem Pfauenschwanz. Die Haltung der Tatzen läßt
noch die Entstehung aus dem Schreitmotiv des Löwen-Greifen-Pfau
des Kastens Nr. 106 (c) erkennen. Das Vorbild zu dieser Umstilisie-
GOLDSCHMIDT
io6a-e. KASTEN MIT SCHIEBEDECKEL. TAFEL LXI
Tiere.
XII. J ah r h und er t.
Paris, Musee de Cluny (Inv. i3y4)-
Höhe 10 cm, Länge 35 cm, Breite i4cm. Der Kasten ist neu bis auf sechs der
Tierplatten, die Fragmente eines echten byzantinischen Kastens sind. Da diese trotz
einer verstreuten Anordnung nicht ausreichten, um einen neuen Kasten aus ihnen
zu machen, sind noch einige Tierplatten hinzu gefälscht worden. Sie sind leicht
erkennbar, da sie durch ihre Größe und geschwungenen Formen von den übrigen
sich abheben. Es handelt sich bei den Fälschungen um beide Platten der Kurz-
seiten und die mittleren Platten der Langseiten. Zum Teil fehlt ihnen der Rahmen
oder, wo er teilweise gegeben ist wie bei dem Pfau (b), bricht er plötzlich ab, um
Platz zu schaffen für den Schwanz des Tieres. Die moderne Marquetterie-Arbeit
in Holz und Elfenbein lehnt sich offensichtlich an einen alten Kasten an, wie der
eingelegte Rosettenfries des Deckels und der vereinfachte Palmettenfries am äu-
ßersten Deckelrande zeigen. Alter Bestand sind also nur die zwei Deckelplatten
und die zwei äußeren Platten einer jeden Langseite. Aus der Collection Germeau
(Nr. 119).
Auf dem Deckel (a) sind ein sich umblickender Löwengreif und
ein schreitender Löwe mit heraushängender Zunge dargestellt.
Die Vorderseite (b) zeigt links einen schreitenden Greifen und als
Gegenstück einen Löwengreifen mit Pfauenschwanz. Man hat den
Eindruck, als ob diese Kombination von Greif und Pfau vom
Schnitzer erfunden und nicht ganz gelöst sei, da durch den Fort-
fall der Hinterbeine ein leerer Raum entsteht, der die ornamentale
Ausgewogenheit der Platte stört. Dieser Löwen-Greifen-Pfau bildet
das Gegenstück zu dem, der sich jetzt auf der linken Platte der Rück-
seite (c) befindet. Die rechte Platte dieser Seite c zeigt einen Pfau.
Stilistisch zeigt der Löwe des Deckels eine unmittelbare Verwandt-
schaft mit den Löwen des Gespannes auf dem Kasten Nr. 43 (a),
wodurch sich dieser Kasten unmittelbar an jene späteren profanen
Kästen anschließt. Auf die Tierdarstellungen der Langseiten haben
sassanidische Vorbilder eingewirkt (vgl.dieZusammenfassungS. 20).
Literatur: Westwood, Fictile Ivories 1876, S. 4'0. Schneider, Serta Harteliana,
1896, Nr. 27. Graeven im Österr. Jahrb. XX, 1899, Nr. 47-
1 07 a—e. KASTEN. TAFEL LXII, LXI1I
Stilisierte Tiere.
XII. Jahrhundert.
Würzburg, D o m s c h a t z.
Höhe 14,6 cm, Länge 26,7 cm, Breite I 8,4 cm. Der Kasten hat seine ursprüng-
liche Gestalt eingebüßt. Becker (a. a. O.) hat ihn in der „Ornatkammer des Domes
teilweise zertrümmert aufgefunden und zusammengesetzt“. Über die ursprüng-
liche Form des Kastens, ob er einen Pyramidenstumpf- oder einen Schiebedeckel
besessen hat, läßt sich nichts mehr vermuten. Weder Deckel noch Langseiten
zeigen den ursprünglichen Zustand, da eine völlige Willkür in der Verteilung
der Ornamentstreifen, solcher mit einfachen Rautenrosetten und solcher mit
Rosettenwechsel, herrscht und auch die Platten nicht mehr ihre ursprüngliche
Stelle einnehmen. So hat z. B. der Pfau der Rückseite (c) sicher mit dem der Seite e
auf einer Seite gesessen. Das Stück Palmettenfries der Seite e gehört zu einem
Deckel fries. ImCzartoryski-Museum in Krakau (Meisterwerke muhammedanischer
Kunst, München 1910, Taf. 1 24) befindet sich ein getriebener Silberkasten, der die
Platten des Würzburger Kastens peinlich genau wiederholt und einen Pyramiden-
stumpfdeckel zeigt. Dieser Kasten kann aber nicht zur Rekonstruktion des Würz-
burger herangezogen werden, da der Silberkasten offensichtlich nach dem
Würzburger gearbeitet ist. Als der Kopist den Silberkasten vergrößerte und zur
Füllung einer Langseite die Motive zweier Elfenbeinseiten benutzte, blieb ihm
für die zweite Langseite nichts übrig, als den Typenschatz noch einmal wörtlich
zu wiederholen. Die erhaltenen Platten und Streifen zeigen eine sehr gute Erhal-
tung. Auf einigen Tieren und Rosetten befinden sich Goldspuren und dunklere
Stellen, die gleichfalls auf die ehemalige Vergoldung hinweisen. Deckelgriff und
Scharniere sind noch aus romanischer Zeit, wenn auch nicht die ursprünglichen
des Kastens.
Die Vorderseite (b) zeigt zwei sich umblickende Sirenen und unter
dem Schloß einen Kentauren, der in der erhobenen Rechten eine
Lanze hält. Der Gegenstand in der Linken ist vielleicht als Rest
eines Bogens zu deuten. Zweimal (c, d) kommen Reh und Hirsch
einander zugekehrt vor, die an Bäumen fressen, das eine Mal gerade-
aus blickend, das zweite Mal sich umwendend. Bei dem Pfauenpaar
(c, e) ist durch die Aufteilung in zwei Platten das in der frühchrist-
lichen Kunst übliche Vasenmotiv verlorengegangen, weshalb sie
gleich den Rehen an Bäumen picken. Der Adler, der einen Hasen
in den Krallen hält (e), erfordert offensichtlich ein Gegenstück
(vgl. Nr. 56b, c). Von den drei Deckelplatten stellt die linke einen
schreitenden Löwen dar mit einem Schaf im Maule (den langen
Ohren nach zu urteilen), die rechte einen Löwengreifen mit einem
Fiel) im Maule. Die Mittelplatte ist eine phantastische V ariation des
Löwengreifen mit Pfauenschwanz (vgl. Nr. 106 b, c). Dieser Pfauen-
schwanz ist in einen Drachenschwanz mit Kopf umgebildet, doch
zeigt er noch die stilisierten Pfauenfedern. In der Art der Stilisierung
macht sich ein starker sassanidischer Einfluß geltend. Ein Vergleich
des Pfauenpaares mit einer persischen Silberkanne (Abb. 28) zeigt,
Abb. 28. Persische Silberkanne.
daß eine der Toreutik eigentümliche Art der Fiederung zwar über-
nommen, die Stilisierung auf dem Elfenbein aber nicht konsequent
durchgeführt ist, da der Pfauenkopf naturalistisch bleibt. Die Lö-
wen des Deckels (a) mit der mandelförmigen Markierung des Schen-
kels zeigen ebenfalls den sassanidischen Einfluß sehr deutlich.
Die Ornamentik besteht aus Rosettenstreifen mit einfachen Rauten-
rosetten oder im Wechsel mit Blattrosetten, die jetzt willkürlich
verteilt sind. Nur zwei Deckelstreifen zeigen üppigere Füllrosetten.
Mit dem Adam-und-Eva-Kasten Nr. 67 hat der Kasten die beiden
Baumformen, die stilisierten Palmen der Rehplatten und die stili-
sierten Bäume der Pfauenplatten mit den sich abzweigenden herab-
hängenden Voluten gemeinsam. Die Köpfe der Sirenen und des
Kentauren (b) zeigen einen Zusammenhang mit den Köpfen der
Figuren auf den Josephs-Platten (vgl. Nr. 96) in ihrer runden Form
und ihrer perückenartigen Haarbehandlung. Auch die Art der
zylindrischen Körperbildung der einzelnen Gliedmaßen macht
einen ähnlichen tektonischen Eindruck wie bei jenen Figuren der
Josephs-Geschichte.
Literatur: Becker und Hefner, Kunstwerke und Gerätschaften des Mittelalters I,
i852, S. 88/89, Taf. 71- Sighart, Geschichte der bildenden Künste in Bayern 1862,
8. 116. Westwood, Fictile Ivories 1876, S. 4Graeven im Preuß. Jahrb. XVIII,
1897, S. 4, Nr. 7 und im Österr. Jahrb. XX, 1899, Nr. 87. Stephani, Der älteste
deutsche Wohnbau Bd. II, to3, S. 621, Fig. 3g5—402-
108. PLATTE EINES KASTENS. TAFEL LXIV
Greifenpfau.
XII. Jahrhundert.
London, Victoria & Albert Museum (A 74. 1925).
Höhe 6 cm, Breite 5 cm. Auf dem Rande und dem Relief Löcher zur Befestigung
auf einen Holzkern. Auf dem Schwanz und dem Flügel Reste von Vergoldung.
Sneyd Collection, McAndrew Collection.
Ein Greif mit einem Pfauenschwanz. Die Haltung der Tatzen läßt
noch die Entstehung aus dem Schreitmotiv des Löwen-Greifen-Pfau
des Kastens Nr. 106 (c) erkennen. Das Vorbild zu dieser Umstilisie-