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wert. Er steht an der Wende zweier Zeitalter. Zwei Stil-
empfindungen streiten sieh in ihm: die freundliche Beschau-
lichkeit, mit der das späte Mittelalter plaudert und die ernste
Feierlichkeit, mit der die erwachende Renaissance sich an-
kündigt. Ist es nicht, als lauschten wir eben noch einer alten
Frau, die mit behaglicher Breite und Weitschweifigkeit Ge-
schichten erzählt? — Und dann tritt plötzlich ein junger Feuer-
kopf auf und weiß uns mit wenigen Worten in packender,
dramatischer Rede für eine große Sache zu begeistern. — Ein
ähnlicher Wechsel der Gesinnung vollzieht sich zwischen den
italienischen Quattrocentisten und ihren Nachfolgern im Cin-
quecento1.
In der Kleinplastik am Chorgestühl spricht sich noch die
alte Geschmacksrichtung aus. Die großen Büsten sind schon
als Vertreter der neuen Bildnisform zu betrachten.
Der Fortschritt äußert sich außerdem in dem Verzicht auf
Polychromierung. Nur Augen und Lippen einiger Figuren und
die Baldachingewölbe zeigen Farbspuren.
Auf jeder Seite im vorletzten Rückwandfeld gegen Osten
ist noch einmal signiert:
Jörg Syrlin
1474
coplevit hoc
opus.
Aus diesen schlichten Worten klingt die ganze Freude des
Meisters über das glücklich vollendete Werk2 und es liegt darin
zugleich sein berechtigter Stolz auf das, was er in fünfjähriger
unermüdlicher Arbeit geschaffen hat.
Dem Beschauer, der nicht weiß, ob er mehr über die Viel-
seitigkeit des Details oder über die Einheitlichkeit des Ganzen
1 Vgl. Wölfflin : Die klassische Kunst. II. Teil: Die neue Gesinnung.
^ Trotzdem die Bilderstürmer sich auch daran vergriffen haben, steht
es doch heute noch in ziemlicher Vollständigkeit vor uns. Die erste Re-
stauration fand im Jahre 1667 statt und wurde von Joh. Ulrich Hurdter
aus Zürich ausgeführt. Zum zweiten Male ward in den 70er Jahren des
19. Jhdts. renoviert. (Pfleiderer, Münsterwerk, Sp. 40). Ob unter den fünf
Bekrönungsbaldachinen je Figuren gestanden haben, ließ sich nicht mehr
ermitteln. Sicherlich waren sie ursprünglich projektiert.
wert. Er steht an der Wende zweier Zeitalter. Zwei Stil-
empfindungen streiten sieh in ihm: die freundliche Beschau-
lichkeit, mit der das späte Mittelalter plaudert und die ernste
Feierlichkeit, mit der die erwachende Renaissance sich an-
kündigt. Ist es nicht, als lauschten wir eben noch einer alten
Frau, die mit behaglicher Breite und Weitschweifigkeit Ge-
schichten erzählt? — Und dann tritt plötzlich ein junger Feuer-
kopf auf und weiß uns mit wenigen Worten in packender,
dramatischer Rede für eine große Sache zu begeistern. — Ein
ähnlicher Wechsel der Gesinnung vollzieht sich zwischen den
italienischen Quattrocentisten und ihren Nachfolgern im Cin-
quecento1.
In der Kleinplastik am Chorgestühl spricht sich noch die
alte Geschmacksrichtung aus. Die großen Büsten sind schon
als Vertreter der neuen Bildnisform zu betrachten.
Der Fortschritt äußert sich außerdem in dem Verzicht auf
Polychromierung. Nur Augen und Lippen einiger Figuren und
die Baldachingewölbe zeigen Farbspuren.
Auf jeder Seite im vorletzten Rückwandfeld gegen Osten
ist noch einmal signiert:
Jörg Syrlin
1474
coplevit hoc
opus.
Aus diesen schlichten Worten klingt die ganze Freude des
Meisters über das glücklich vollendete Werk2 und es liegt darin
zugleich sein berechtigter Stolz auf das, was er in fünfjähriger
unermüdlicher Arbeit geschaffen hat.
Dem Beschauer, der nicht weiß, ob er mehr über die Viel-
seitigkeit des Details oder über die Einheitlichkeit des Ganzen
1 Vgl. Wölfflin : Die klassische Kunst. II. Teil: Die neue Gesinnung.
^ Trotzdem die Bilderstürmer sich auch daran vergriffen haben, steht
es doch heute noch in ziemlicher Vollständigkeit vor uns. Die erste Re-
stauration fand im Jahre 1667 statt und wurde von Joh. Ulrich Hurdter
aus Zürich ausgeführt. Zum zweiten Male ward in den 70er Jahren des
19. Jhdts. renoviert. (Pfleiderer, Münsterwerk, Sp. 40). Ob unter den fünf
Bekrönungsbaldachinen je Figuren gestanden haben, ließ sich nicht mehr
ermitteln. Sicherlich waren sie ursprünglich projektiert.