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Grill, Erich
Der Ulmer Bildschnitzer Jörg Syrlin D. Ä. und seine Schule: ein Beitrag zur Geschichte der schwäbischen Plastik am Ausgang des Mittelalters — Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Band 21: Strassburg: Heitz, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.73234#0067
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53 —

stehenden Werken deutscher Plastik, in hervorragendem Maße
geeignet. Aus der «Riemenschneiderkapelle» (Raum 16) kom-
mend, sehen.wir, den Saal 17 betretend, die Syrlinschen Ar-
beiten mit denen des Erasmus Grasser in einem Gewölbe ver-
einigt. Die fränkische (bezw. Würzburger) Schule tritt hier der
schwäbischen (bezw. Ulmer) und der bayrischen (bezw. Münchner)
gegenüber.
Der «Lyriker» Tilman Riemenschneider1 streitet mit dem
Epiker Erasmus Grasser und dem Dramatiker Jörg Syrlin d. Aelt.
um die Palme. Aber während der schlicht erzählende Münchner
bei einem Vergleich mit dem feinempfindenden Würzburger
Bildner entschieden verliert, kann sich unser Meister Jörg sehr
wohl neben ihm behaupten. Erstaunlich ist die Gründlichkeit,
mit der er sich in seine Modelle hineinsieht und jede einzelne
Individualität herausarbeitet. Denn offenbar liegen, wie bei den
großen Büsten des Ulmer Gestühls, auch hier Portraits vor, die
die Vorbilder für Propheten und Evangelisten abgeben. Aber
welche Intensität des Ausdruckes, welche verblüffende Lebens-
wahrheit hat der Künstler, der das Technische souverän be-
herrscht2 jetzt erreicht! Unter völliger Hingabe an fremdes
Wesen zieht er sich in sich selbst zurück und bildet Geschöpfe
unabhängigsten Eigenlebens.
Seine Münchner Halbfiguren offenbaren ihn als Portraitisten
allerersten Ranges. Eine ganze Lebensgeschichte möchte man
von jeder dieser Physiognomien ablesen. Man sehe sich den «Ge-
sellen», den «Abt» oder einen «Propheten» (Gruppe 9, Nr. 6)
an. Konnte der tölpelhafte Lehrling, der selbstzufriedene Priester,
oder der behäbige Alte mit größerer Naturtreue gezeichnet und
zugleich mit gutmütigerem Humor festgehalten werden? —
Difficile est satirain non scribere. — Wir haben schon bei den
Miserikordien und Knäufen in Ulm Syrlins Spottlust bemerkt.
Aber die dort teilweise zu beobachtende Derbheit3 hat hier dem
feinen Lächeln Platz gemacht, das die Züge eines alten Lebens-
kenners verklärt.

1 Wie ihn Halm (Münchner Jahrb. d. b. K., 1907, 11, S. 143) in fein-
sinniger Weise genannt hat.

2 Vgl. Halms Publikation, S. 143.

3 Vgl. Pfleiderer «Das Münster zu Ulm a. D.>, Sp. 41.
 
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