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Grill, Erich
Der Ulmer Bildschnitzer Jörg Syrlin D. Ä. und seine Schule: ein Beitrag zur Geschichte der schwäbischen Plastik am Ausgang des Mittelalters — Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Band 21: Strassburg: Heitz, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.73234#0038
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— 24 -

schmaler Ober- und breiter Unterlippe, durch markierten Unter-
kiefer und ausladendes zweigeteiltes Kinn. Tiefe Augenhöhlen
und die an der Wurzel eingesattelte gebogene Nase, hervortre-
tende Backenknochen und schräg abgeplattete Wangen breiten
über die geistreichen Züge ein malerisches Helldunkel. Lockiges
Haar, das unter der glatten Mütze herausquillt und der in
schweren Falten sich bauschende und in lebhaftem Schwung
um die Schultern geworfene Mantel erhöhen die bildartige
Wirkung. Und wieder tragen die mit großer Feinheit durch-
gebildeten Hände mit zu der Charakteristik bei1. Frei erfunden
kann eine solche Gestalt nicht sein. Es offenbart sich in ihr
eine eminente Portraitkunst. Wer aber ist der Dargestellte?
— Mit der Linken, auf deren Rücken die Adern durchschimmern,
zeigt er auf seine Brust; die Rechte hält einen Lorbeerzweig.
Wie Pfleiderer2, im Gegensatz zu Pressel 3, überzeugend nach-
weist, haben wir den Meister selbst vor uns. Von bescheidenem
Platze aus blickt er auf das vollendete Werk, als wollte er
sagen: «Das habe ich geschaffen.» Links über ihm an der
Rückwand steht zu lesen: «1469 Georgi(us) • Syrlin • incepit •
hoc • opus». An der Büste findet sich keine Benennung. Wenn
wir also in ihr ein Selbstportrait Syrlins erkennen dürfen, so
liegt die Vermutung nahe, daß das Gegenüber seine Gattin «die
Meisterin» verewigt. Die Annahme gewinnt an Wahrschein-
lichkeit, wenn man in Betracht zieht, daß eine «Eritria» schon
am Levitenstuhl vorkommt. Die absichtliche Wiederholung einer
der Hauptfiguren bedeutet eine Störung der Symmetrie, die im
ersten Entwurf sicher nicht vorgesehen war.
Zu der durch die Tradition bestätigten Bestimmung der
beiden Gestalten als den Künstler und seine Hausfrau, passen

1Wölfflin («Die klassische Kunst». S. 32) rühmt bei einer Be-
sprechung der «Mona Lisa» dem Andrea del Verrocchio (1436—88/, dem
Lehrer des großen Leonardo, nach, er sei seinem Schüler bei der inner-
lichen Bereicherung des Bildnisses «vorausgegangen, indem er sogar in
die Büste die Hände hineinzog». Ungefähr gleichzeitig — wenn nicht
früher!? — sehen wir hier von Syrlin dasselbe Prinzip angewendet.

2 Münster werk, Sp. 38—39, a a. 0.

3 Festschrift, S. 79. Vgl. auch A. Klemm (Allgemeine deutsche Bio-
graphie, Bel. 37, S. 166—69. Er sieht in der Figur «den lorbeergekrönten
Virgil, dem die Züge des Künstlers gegeben sind».
 
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