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oder Farbreste aufweisen und daß sämtliche Spruchbänder
unbeschrieben geblieben sind. Ferner ließe sich auch die unge-
rade Zahl, namentlich der als Wangenbüsten gedachten Figuren1
als Stütze meiner Behauptung ins Feld führen. Ich müßte mich
dann aber auf den Einwurf gefaßt machen: die fehlenden
könnten verloren gegangen sein.
Ausschlaggebend für die aufgestellte These erscheint
mir aber der stilistische Fortschritt gegenüber dem vorausge-
gangenen Schaffen.
Ueberblicken wir noch einmal des Meisters gesamtes Lebens-
werk, soweit es auf uns gekommen ist. Wir haben gesehen,
wie er von den ersten Versuchen figürlicher Darstellung am
Lesepult, über den noch unbeholfenen bildnerischen Schmuck,
des Dreisitzes, zu dem immer bedeutender werdenden des Chor-
gestühls fortschreitet. Von spätgotischem Formensinn kommt
er zu einem Renaissance-Empfinden, wie es in der «cumanischen
Sibylle» den für ihn reinsten Ausdruck gefunden hat. Die
künstlerische Höhe dieser Stil-Epoche bezeichnen aber der
«Quintilian», die «Lybica» und das «Donauweibchen». Dann
tritt eine Wandlung — in gewisser Weise ein Rückschritt —
ein mit dem «Fischkasten». Hier möchte man von barocker
Gotik reden2.
Noch überwiegen gotische Prinzipien, aber in der gestei-
gerten Bewegung, die selbst die Architektur erfaßt hat, kommt
eine neue Stilart zum Durchbruch. Noch einmal tritt in dem
Ravensburger St. Georg vorübergehend eine Beruhigung ein.
Aber zugleich ist hier ein Naturalismus angestrebt, der einer-
seits der Geziertheit der Brunnenstatuen ein Ziel setzt und
andererseits den Realismus der Münchner Büsten vorbereitet.
Der glatte Kontur ist nach Möglichkeit vermieden und
durch gebrochene Linien ersetzt, wozu zahlreiche Überschneidungen
1 wovon, nach Analogie des Ulmer Chorgestühls, je zwei, an den
Eingängen sich korrespondierende, also wenigstens acht Bildnisse, nötig
wären.
2 ^Barocke Gotik» — eine solche Bezeichnung scheint mir besonders
für den Norden berechtigt, wo sich Eigentümlichkeiten des Barock bereits
in der Kunst um die Wende des XV. und XVI. Jahrhunderts ausgeprägt
finden.
oder Farbreste aufweisen und daß sämtliche Spruchbänder
unbeschrieben geblieben sind. Ferner ließe sich auch die unge-
rade Zahl, namentlich der als Wangenbüsten gedachten Figuren1
als Stütze meiner Behauptung ins Feld führen. Ich müßte mich
dann aber auf den Einwurf gefaßt machen: die fehlenden
könnten verloren gegangen sein.
Ausschlaggebend für die aufgestellte These erscheint
mir aber der stilistische Fortschritt gegenüber dem vorausge-
gangenen Schaffen.
Ueberblicken wir noch einmal des Meisters gesamtes Lebens-
werk, soweit es auf uns gekommen ist. Wir haben gesehen,
wie er von den ersten Versuchen figürlicher Darstellung am
Lesepult, über den noch unbeholfenen bildnerischen Schmuck,
des Dreisitzes, zu dem immer bedeutender werdenden des Chor-
gestühls fortschreitet. Von spätgotischem Formensinn kommt
er zu einem Renaissance-Empfinden, wie es in der «cumanischen
Sibylle» den für ihn reinsten Ausdruck gefunden hat. Die
künstlerische Höhe dieser Stil-Epoche bezeichnen aber der
«Quintilian», die «Lybica» und das «Donauweibchen». Dann
tritt eine Wandlung — in gewisser Weise ein Rückschritt —
ein mit dem «Fischkasten». Hier möchte man von barocker
Gotik reden2.
Noch überwiegen gotische Prinzipien, aber in der gestei-
gerten Bewegung, die selbst die Architektur erfaßt hat, kommt
eine neue Stilart zum Durchbruch. Noch einmal tritt in dem
Ravensburger St. Georg vorübergehend eine Beruhigung ein.
Aber zugleich ist hier ein Naturalismus angestrebt, der einer-
seits der Geziertheit der Brunnenstatuen ein Ziel setzt und
andererseits den Realismus der Münchner Büsten vorbereitet.
Der glatte Kontur ist nach Möglichkeit vermieden und
durch gebrochene Linien ersetzt, wozu zahlreiche Überschneidungen
1 wovon, nach Analogie des Ulmer Chorgestühls, je zwei, an den
Eingängen sich korrespondierende, also wenigstens acht Bildnisse, nötig
wären.
2 ^Barocke Gotik» — eine solche Bezeichnung scheint mir besonders
für den Norden berechtigt, wo sich Eigentümlichkeiten des Barock bereits
in der Kunst um die Wende des XV. und XVI. Jahrhunderts ausgeprägt
finden.