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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,2) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47242#0206

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der Scenen des Neuen Testamentes in ganz realistischen
Figuren. Man meinte, in je höherem Grade man den Ge-
mälden den Anschein zu geben vermöge, als stehe uns auf
ihnen eine photographisch ftreue, durch naturalistische Zuver-
lässigkeit unantastbare Wiedergabe des Vorgefallenen vor
Augen, um so überzeugter müsse der Betrachtende davon sein»
daß Alles in der That so verlaufen fei wie er es hier sehe
und nicht anders. Nun aber ist das Geheimniß, dergleichen
real wirkende Malereien herzustellen, heute so verbreitet und
die Erlernung und fast mechanische Anwendung dieser Fertig-
keit verhältnißmäßig so leicht, daß das Publicum daran genuA
hat. Vor jeder sogenannten realistischen Darstellung einer
sogenannten historischen Scene weiß Jedermann jetzt sogleich,
daß es sich nur um scheinbar exact historisch gekleidete Modelle
in scharf beleuchteter farbiger Reproduktion handle, und daß
diese Darstellungen so wenig der Wirklichkeit entsprechen, als
etwa lebende Bilder eben deshalb, weil man Alles anfassen
könne, den Vorgängen, die sie zum Anfassen wahrhaftig be-
deuten sollen.
Da tauchen jetzt einzelne Meister auf, die den Muth
haben, die Wirklichkeitsmalerei zu verleugnen und Gemälde
zu schaffen, deren innere Wahrheit uns packt und die sich in
unsere erinnernde Phantasie eingraben. Selbstverständlich ist,
daß Scenen nicht wahrheitsgemäß gemalt werden können, bei
denen Niemand zugegen war, daß es aber eine innere An-
schauung solcher Scenen gebe, die im Kunstwerke sestgehalten
und weitergegeben werden könne. Daß freilich nur ganz be-
sonders angelegte Naturen so zu sehen und so zu malen be-
fähigt seien. Daß das aber, was diese besitzen, eben das
Geheimniß der echten Kunst sei.
 
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