Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
186 DRITTES BUCH: SHAKESPEARE ALS GEHALT
Stellung von Shakespeare durch Wielands Arbeit gewannen. Dabei
kommt es nicht darauf an ob diese Vorstellung richtig war, sondern
ob sie wirksam war, und das wird sich nicht leugnen lassen: denn
selbst die Einwände, die die jungen Stürmer und Dränger auf Grund
ihres Shakespeare#kultus gegen den Übersetzer erhoben, hatten noch
immer diejenige Kenntnis von Shakespeare zur Grundlage die ihnen
dieser Übersetzer vermittelt hatte .. und wenn sie sich gegen Wielands
geschmäcklerische Nörgeleien in den Anmerkungen wandten, so was
ren sie doch immer abhängig von dem Text zu dem er sie gemacht
hatte. Überhaupt: die gesamte Sturms und Drangsdramatik, Götz und
die Räuber nicht ausgenommen, beruht so wie sie ist auf dem durch
Wieland vermittelten Shakespeare, nicht auf der Kenntnis des Origis
nals. Man vergißt leicht daß ein junger Literat dem man damals von
Shakespeare sprach unwillkürlich an einen Komplex in Prosa ge#
schriebener Dramen dachte, weil er an den Shakespeare denken mußte
der zu seinem eigenen Erleben sprach, das nur in der gleichen Sprache
statthat — wie heute ein Gymnasiast, wenn man Shakespeares Werke
nennt, unwillkürlich nicht an den englischen, sondern an den Schlegel#
Tieckschen denkt, denn dieser ist das Element seiner Bildung. Sagen
wir aber Horaz, Cicero oder Sophokles, so denkt man allerdings an
die Originale, weil keine Übersetzung Gemeingut der Bildung ist.
Wir werden zu zeigen haben daß die gesamte prosaische Dramatik
des Sturms und Drangs von dem Shakespeareschen Geist und der
Shakespeareschen Form genau so weit oder noch weiter entfernt ist
als der Wielandische Shakespeare. Man darf behaupten: wäre die erste
deutsche Shakespeare#übersetzung inVersen geschrieben statt in Prosa —
das gesamte Dramenwesen der Sturm* und Drang#epoche hätte ein
wesentlich anderes Aussehen bekommen. Daß die Wielandische Über#
tragung Prosa war trug viel dazu bei, Shakespeare zu jenem Inbegriff
des wildschaffenden, hinwerfenden Genius zu machen als welcher er
die Produktion jener unbändigen Jungen bestimmte. Die bloße An#
Wendung des Verses hätte genügt , ihnen eine Vorstellung von der
Form und dem Formenreichtum dieses Kosmos zu geben, den sie als
wogendes Chaos nur deshalb anzusehen verführt waren, weil sein
Vermittler seine Form selbst für zufällig erklärt hatte. Was wir heute
an Wielands Übersetzung rügen, ist vor allem fdaß er die Form ver#
 
Annotationen