Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
I: HERDER

187

fehlt hat, daß er Shakespeare formlos gemacht hat. Die damalige re*
volutionäre Jugend hatte etwas ganz anderes daran auszusetzen: daß
er die formsprengende Urkraft, die sie in Shakespeare — die wenigsten
auf Grund wirklicher Kenntnis — vermuteten, abgeschwächt habe.
Übrigens: hätte Wieland seine Übersetzung so wie sie ist, ohne die
mäkelnden Anmerkungen oder gar mit einem Begleitwort das seiner
Gesamtverehrung Shakespeares entsprochen hätte, herai gegeben: sie
wäre wahrscheinlich von denjungen ohne Grimm oder rmit Jubel be*
grüßt worden, wie sie denn benutzt wurde trotz aller al älligen Urteile.
Erst der begleitende Text Wielands machte die meisten darauf auf*
merksam daß hier ein Geschmäckler an einen Titanen geraten war.
Kaum daß einen der Umguß Shakespeares in Prosa selbst gestört hätte:
nur die Ungelenkheit der Prosa, die Flauheit und Schwäche des Tons
wird gerügt, — es war nicht selbstverständlich, wie uns, daß Shake*
speare in Prosa all jene Fehler eo ipso nachzieht, daß die Wiedergabe
des Tons die Wiedergabe der Form, des Verses zur Voraussetzung
hat. Soweit war der Sturm und Drang im allgemeinen davon entfernt
die Form in der Sprache zu finden.
Daß dieWielandische Übersetzungauch den ersten deutschen Shake*
speare*aufführungen zugrunde gelegt wurde, ist eine Begleiterschei*
nung ihrer Wirkung, die aber erst später eintrat und für die Weiter*
entwicklung des deutschen Geistes keinen besondern Wert hat. Die
großen geistigen Ereignisse Deutschlands werden nicht durch die
Bühne gemacht, sondern sie treten auf der Bühne meistens in Erschei*
nung, wenn die Entwicklungbereits über sie hinausgeschritten ist. Der
moderne Kultus des Theaters, der unsere Literaturgeschichtschreibung
nicht zu ihrem Vorteil infiziert, läßt übersehen daß die Bühne in
Deutschland niemals schöpferisch war, sondern nur ein Mittel um auf
das Publikum zu wirken, vor das Publikum zu bringen was anderswo
längst entschieden war. Die Bühne als moralische Anstalt ist eine
der antidramatischsten Konzeptionen die sich denken läßt — und sie
stammt von unserm größten Dramatiker. Nicht nur Goethe hat seine
Stücke, wie er gesteht, gegen das Theater geschrieben, sondern Lessing,
Schiller, Hebbel, Kleist, alle. Es sind große Dichter die, durch Shake*
speares Gewalt gebannt und verführt, sich in dramatischer Form aus*
sprachen, ehe eine dramatische Notwendigkeit, ja ehe ein dramatischer
 
Annotationen